Reprodukt Verlagsschau

Virtuos-intime Bildgeschichten

Reprodukt hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren zum wichtigsten deutschen Comic-Verlag entwickelt. Die Berliner publizieren nicht nur die Stars der Szene, sondern fördern im großen Stil Nachwuchskünstler.

Der französische Comicstar Lewis Trondheim ist das Aushängeschild von Reprodukt. In regelmässigen Abständen setzt er seine Leser in einem Comic-Tagebuch darüber in Kenntnis, was bei ihm und in der französischen Szene so los ist. Sein jüngst auf Deutsch erschienener Band «Der Fluch des Regenschirms» (zirka 17 Euro/25 Franken) versammelt Anekdoten, Kindereien unter Zeichnern und allgemeine Lebensbetrachtungen.

 

Der rote Faden, der dieses Sammelsurium zusammenhält, ist das aufrichtige Staunen darüber, was für Gedanken einem so durch den Kopf schwirren. Nicht nur in seinen persönlichen Geschichten vereint Trondheim Tiefsinnigkeiten mit einem überbordenden Humor. (Ausführlichere Besprechung »)

Exotik und perverse Eleganz

Wie in einer Fabel zeichnet Trondheim seine Figuren und sich selbst stets als Tiere. Diese Kombination erscheint in der Abenteuergeschichte «Insel Bourbon 1730» (zirka 17 Euro/30 Franken) in einem besonders aussergewöhnlichen Gewand. Gemeinsam mit dem Szenaristen Appollo erzählt er von dem Ende der Piraterie und einer Gruppe von Vogelforschern auf der französischen Insel La Réunion.

 

Trondheim hielt seine Bilderzählung dem exotischen Ort zum Trotz in Schwarzweiss. Die Piraten mit ihren im Kampf verzierten Körpern entsteigen den wilden Strichen und Kringeln der wuchernden Natur wie Kreaturen, die zu ihr gehören. Als mythische Gestalten sind sie mit dem sagenhaften Dodo verwandt, nach dem die Vogelforscher suchen. Wo die Zivilisation mit ihrer Sklaverei und grausamen Wissenschaft anfängt, werden die Bilder weisser und die formgebenden Konturen rarer.

Neben grafischen Romanen verlegt Reprodukt etliche französische Serien. In «Fräulein Rühr-mich-nicht-an» (je Band zirka 12 Euro/19 Franken) gerät die sauertöpfische Spassbremse Blanche in Paris um 1930 in ein Luxusbordell, wo die apartesten Wünsche der französischen Oberschicht erfüllt werden. Fortan gibt sie dort als frigide Furie die Attraktion.

 

Hubert und Kerascoёt schufen ein humorvoll-galliges Sittengemälde. Mit ihrem lakonisch persiflierenden Stil gewähren sie einen Blick auf die pervertierte Sinnlichkeit der französischen Bourgeoisie. Im dritten Band «Der Märchenprinz» glaubt die kindlich naive Blanche ihren Märchenprinzen gefunden zu haben, der sie aus ihrem Leid befreien wird. Auf dem Einband trägt sie ein Kleid, das er ihr geschenkt hat: Auf dem eleganten Schwarz fliessen blutrote Tränen von ihr herab. (Besprechung der Bände 1 und 2 »)

Licht und Schatten des Alltags

Reprodukt kümmert sich um besonders um deutsche Nachwuchskünstler. Nicht allein, indem es die Comic-Anthologie «Orang» (Band 9 zirka 15 Euro/23 Franken) herausbringt, die ein Experimentierfeld für junge Zeichner ist. Der Verlag bringt immer häufiger deren erste grossen Arbeiten heraus.

 

«Alien» (zirka 16 Euro/26 Franken) von Aisha Franz erzählt von einer alleinerziehenden Mutter und ihren beiden pubertierenden Töchtern. Jede von ihnen ist in ihrer Lebenssituation isoliert, gefangen wie in dem Gitter der aneinanderklebenden quadratischen Bilder. Die Bleistiftzeichnungen vermitteln ausdrucksstark die Traurigkeit, aus der die drei Frauen in ihrem festgefügten Leben auszubrechen versuchen.

Diese persönliche Erzählhaltung macht einen Grossteil der Neuerscheinungen von Reprodukt aus. Der Schweizer Frederik Peeters berichtet in «Blaue Pillen» (zirka 20 Euro/36 Franken), wie er mit der HIV-Infizierung seiner Freundin und ihres dreijährigen Sohnes zu leben lernt. Anrührende Alltagsmomente, wenn etwa der Junge erstmals die Nähe des neuen Freundes seiner Mutter sucht, wechseln sich mit metaphorischen Bildern ab, die ein Gefühl für die ständige Präsenz der Krankheit geben. Der beständige Wechsel zwischen schweren und leichten Momenten schlägt sich in starken Schwarzweiss-Kontrasten nieder.

 

Ob arrivierter Künstler oder neues Talent: Durch Reprodukt sehen wir persönliche Geschichten, die ihresgleichen suchen.

 

Waldemar Kesler, im Februar 2011

zuerst erschienen in der «Neuen Luzerner Zeitung»

 

Früherer Schwerpunkt über Reprodukt-Comicromane »

Kommentar schreiben

Kommentare: 0