Ein Leben in China 1: Die Zeit meines Vaters

Ein Vierteljahrhundert chinesische Geschichte

Es ist eine politisch turbulente Zeit, in die Xiao Li Mitte der 1950er-Jahren in der chinesischen Provinz Yunan hineingeboren wird. Das alte China mit seiner Tradition wird ohne Rücksicht auf Verluste für tot erklärt – entstehen soll unter dem kommunistischen Regime vom Mao Tse ein grundlegend neuer Staat. Li erlebt die zum Scheitern verurteilten Versuche, China zur Industrienation zu machen (der Bevölkerung als "Der grosse Sprung" verkauft) und das damit einhergehende Elend in den Dörfern am eigenen Leib.

 

Unter dem Eindruck omnipräsenter Propaganda beteiligt sich Li als Jugendlicher mit Überschwang an der so genannten Kulturrevolution, entlarvt angebliche Konterrevolutionäre, denunziert und wird selber verleumdet – mit weitreichenden Folgen für seine Familie. Nach der Ausbildung zum Maler im Dienste des Regimes, in deren Fortgang er Tausende Mao-Plakate produziert, erlebt Li 1976 als Soldat mit, wie Maos Tod verkündet wird. Für den 21-Jährigen bricht eine Welt zusammen.

 

Mit seiner Erzählzeit von 1949 bis 1976 ist der erste Band "Die Zeit meines Vaters" der Trilogie "Ein Leben in China" (Edition Moderne, zirka 24 Euro/30 Franken) von Philippe Otié und Li Kunwu ein monumentales Werk geworden. Die mit reduziertem Tuschestrich realisierten Zeichnungen Kunwus passen – ihrer aus dem expressiven Stil resultierenden Unmittelbarkeit geschuldet – perferkt zur stark autobiografischen Färbung des 250 Seiten starken Comics. Auch wenn der durch die Fokussierung auf eine ganz normale Familie in der Provinz gesetzte Rahmen noch so intim daherkommt, so zeigt sich doch – in krassem Gegensatz zu heutigen westeuropäischen Verhältnissen –, wie stark das Private im damaligen (oder eben nach wie vor heutigen?) China mit der Gemeinschaft und den obrigkeitlichen Strukturen verzahnt war und wie sehr der einzelne Genosse fürs Gesamte stand respektive zumindest hätte stehen sollen.

 

Die Szenen der Denunzierung der Lehrer und Eltern erinnern höchst unangenehm an die Logik, nach der etwa Nazideutschland funktioniert haben muss und andere totalitäre Staaten nach wie vor funktionieren. Genau diese Verquickung von Einzelschicksal und der Entwicklung eines kommunistischen Staates von aus Schweizer Sicht kaum vorstellbarer Grösse ist es, die "Die Zeit meines Vaters" so ungemein lesenswert und aus der Sicht des historisch und politisch Interessierten wertvoll macht. Entsprechend ungeduldig wartet man nach der Lektüre auf die Folgebände "Die Zeit der Partei: 1976–1982" und "Die Zeit des Geldes: 1982–2009", die auf den Frühling beziehungsweise Herbst 2013 anberaumt sind. Comic des Jahres! (scd)

PS, im März 2013: Der Zweitling "Die Zeit der Partei" ist soeben erschienen. Bis in die 1980er-Jahre hineinreichend, stehen darin die Bemühungen Lis im Mittelpunkt, in die Partei aufgenommen zu werden. Interessant und aufschlussreich sind die Einschübe aus dem Jahr 2009, in denen der gealterte Protagonist – allem Anschein nach wie vor gleich stark überzeugt von der "Sache" – in die Vergangenheit zurückblickt. Nicht mehr ganz so erschütternd wie "Die Zeit meines Vaters", erstaunt den hiesigen Leser nach wie der unglaublich enge Konnex zwischen Staat, Familie und Individuum. (scd)

Henry David Thoreau – Das reine Leben

Sprachlos schöner Naturphilosoph

"Ziviler Ungehorsam": Mit diesem Programm wird Henry David Thoreau aufgrund seiner zum Sinnbild gewordenen Nacht im Gefängis als Protest gegen die Sklaverei wohl am meisten in Verbindung gebracht. Oder aber als Romantiker, der die Erfüllung in einer einfachen, entbehrungsreichen Lebensweise in der Natur sieht. Dass von beidem etwas im US-amerikanischen Philosophen und Literaten (1817–62) steckt und sich politisches Engagement und friedvolles Sein keineswegs gegenseitig ausschliessen müssen, zeigt "Henry David Thorau – Das reine Leben" (Knesebeck, zirka 22 Euro/32 Franken) von Maximilien Le Roy und A. Dan auf eindrückliche Weise.

 

Brillant ist vor allem, dass die Biografie Thoreaus (wie etwa auch der ebenfalls sehr zu empfehlende Band "Nietzsche" von Onfray/Le Roy) mit extrem wenig Text auskommt. Vielmehr tritt das wunderschöne und stimmungsvolle Artwork als eigentlicher Erzähler auf, und zwar dergestalt, dass man am Ende tatsächlich das Gefühl hat, dem Wesen des genialen Querdenkers und seinem Werk extrem nah gekommen zu sein. Die Lektüre von "Das reine Leben" bereitet enorm Lust, sich Werke wie "Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat" und "Walden" (noch einmal) im Originaltext zu Gemüte zu führen. Uneingeschränkte Leseempfehlung! (scd)

FVZA – Federal Vampire And Zombie Agency

Vampire! Zombies! Maschinengewehre! Explosionen!

Die schlechte Nachricht: Vampire und Zombies existieren. Die gute Nachricht: Sie sind deutlich dezimiert und der Sieg der Menschheit scheint zum Greifen nah. Dies ist der Verdient der Organisation FVZA (Federal Vampire and Zombie Agency). Doch eine neue Gefahr zieht auf: Die Zombies scheinen intelligenter geworden zu sein und entwickeln menschliche Züge. Der Übervater der Agentur, Dr. Pecos, wird aus dem Ruhestand geholt. Und für den anstehenden Kampf nimmt er seine zwei besten Waffen mit. Seine Enkel Landra und Nadal wurden seit ihrer Kindheit nur zu einem Zweck erzogen: Vampire und Zombies niedermachen. Doch während des entbehrungsreichen Kampfes muss Landra erkennen, dass ihre Ausbildung einen geheimen Hintergrund hat und ihr Grossvater ihr nicht die ganze Wahrheit über ihre Familie verraten hat.

 

"FVZA – Federal Vampire And Zombie Agency" (Splitter, zirka 22 Euro/31 Franken) bietet einen spannenden neuen Ansatz im derzeit eher etwas mauen Zombie- und Vampir-Genre. Der Einzelband strotzt vor Action und bietet einen spannenden Einblick in eine Welt, die gelernt hat, mit den Ungeheuern zu leben. Die Spannung beim Lesen ist hoch und das Artwork hochwertig. Die Panels zeichnen sich durch einen hohen Detailreichtum aus und die matten Farben transportieren die gedrückte Stimmung der Story perfekt. Aber trotz Spannung und überraschenden Spins bleibt man mit dem Gefühl zurück, dass der Geschichte ein gewisser Tiefgang fehlt. Was bleibt, ist ein Stück gute, kurzweilige Unterhaltung. (ras)

 

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Hellblazer: Gefährliche Laster

John Constantine stirbt mal wieder

Lungenkrebs im Endstadium: Die Diagnose ist wie ein Schlag ins Gesicht. Der Magier John Constantine, welcher bereits die Hölle und andere unbekannte Dimensionen erforscht hat, soll von einer derart weltlichen Krankheit dahingerafft werden. So macht er sich auf die Suche nach einem Weg am Leben zu bleiben. Und wird erneut im Übernatürlichen fündig. Die rettende Idee keimt auf, aber sie ist derart riskant, dass sogar Constantine Bedenken hat...

 

"Hellblazer: Gefährliche Laster" (Panini, zirka 29 Euro/39 Franken) ist der erste von fünf Sammelbänden der Geschichten, die Garth Ennis ("Preacher") geschrieben hat. Er erscheint in der so gennanten "Garth Ennis Collection". Und die Kombination des abgründigen Magiers John Constantine und des schwaren Humors eines Ennis ist tatsächlich eine exklusive Mischung. Vor allem für Leser, die mit der Verfilmung "Constantine" mit Keanu Reeves aus dem Jahre 2005 vertraut sind, bietet dieser Comic eine spannende Ausgangslage. Denn hier werden Abgründe gezeigt, die in der Hollywood-Verfilmung so nicht möglich waren. Während im Constantine im Blockbuster geläutert gezeigt wird, sieht man auf dem Papier, wie zerrissen er aus jeder Situation wieder rauskommt. Neueinsteiger werden mit der Wiederauflage eine der legendärsten Storylines im Hellblazer-Universum entdecken, und Fans dürften am kompakten Sammelband ebenfalls ihre Freude haben. (ras)

 

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Canardo 1

Der abgebrühteste Erpel der Comic-Geschichte

Immer trifft es Canardo. Der Enteninspektor will sich nur wie immer im Hühnerbordell "Bei Freddo" volllaufen lassen und trotzdem findet ihn die Arbeit immer wieder. In diesem Sammelband muss er etwa einem in die Heimat zurückgekehrten Hundesoldaten bei der Suche nach seiner Liebsten behilflich sein. Zudem führt ihn ein Bodyguard-Job in weite Russland, und schliesslich muss der Enterich auch noch das Rätsel der Sängerin Lili lösen. Jedes Mal, sobald sie den Klassiker "Lili Marleen" trällert, löst das derartige Aggressionen bei den Zuhörern aus, dass einige daran glauben müssen.

 

"Canardo 1" (Schreiber&Leser, zirka 29 Euro/30 Franken) von Sokal präsentiert die ersten Abenteuer des bekannten Enteninspektors. Die drei Geschichten wirken zu Beginn aufgrund ihrer tierischen Protagonisten wie eine Alternative zum "Lustigen Taschenbuch". Aber je tiefer man in die Geschichte hineingerät, desto mehr erkennt man, dass hier die grossen Klassiker der Noir-Kultur Vorbild standen. Coole Attitüden, schlagfertige Sprüche – und dies im Angesicht grosser Tragödien. "Canardo" sticht mit seiner Ästhetik aus dem Genre heraus. Der Sammelband bietet einen idealen Einstieg für Neuleser! (ras)

 

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Destiny – Eine Chronik angekündigter Todesfälle

Niemand kann ihm entrinnen

Die Bewohner der Kleinstadt leben in konstanter Furcht und verbarrikadieren sich. Denn in dieser Version der Postapokalypse wütet erneut die Pest. Die Ankunft eines Fremden macht die verschüchterten Anwohner neugierig. Vor allem da dieser behauptet, dass in seinem Buch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft festgeschrieben stehen.

 

Bei "Destiny" (Panini, zirka 20 Euro/26 Franken) handelt es sich um einen weiteren Spin-Off der legendären "Sandman"-Reihe. Diesmal steht aber Sandmans Bruder, der Herr der Träume, im Mittelpunkt: Destiny, der Mann mit dem Buch, in dem alles geschrieben steht. Dabei folgt man den Erlebnissen des Ewigen vom tiefsten Mittelalter bis in die Neuzeit. Für Leser, die sich mit der Serie auskennen, eröffnet sich ein neuer Blick auf die Figur. Denn diese war bisher nur als grimmiger, mehrheitlich eigenschaftsloser Mönch aufgetreten – in diesem Band sieht man, dass ihm das "Menschliche" doch nicht so fremd ist. Das Artwork zeigt sich sehr ästhetisch und abwechslungsreich. Kein Wunder, haben sich ja vier Zeichner, welche bereits für die "Sandman"-Reihe gestaltet haben, für die Arbeit zusammengeschlossen. Trotz des gelungenen Artworks und der ausgeklügelten Geschichte hinkt der vorliegende Einzelband der Originalserie etwas nach. Fans, welche jegliche Aspekte der Saga kennen wollen, sollte dies jedoch nicht abschrecken. (ras)

 

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Chew 3: Eiskalt serviert

Die Vergangenheit holt den Geschmacksdetektiv ein

Das chaotische Leben Tony Chus geht weiter. Auch wenn der Polizist, der dank seines telepathischen Geschmackssinns Verbrechen löst, mit seiner neuen Freundin für einen Moment lang fast schon ruhig und trotz der berufsnotwendigen Kostungen von Mordopfern angenehm erscheint, stürzt alles wieder ins Chaos. Grund: Die unausweichliche Bekanntmachung seiner verschrobenen Familie mit seiner Freundin und die Aufdeckung eines Geheimnisses aus seiner Vergangenheit.

 

Auch der dritte Band von "Chew" (Cross Cult, zirka 17 Euro/22 Franken) bleibt auf einem erfreulichen Kurs. Die Komik der irrwitzigen Geschichte um Tony Chus "Superkraft" bleibt auf hohem Niveau, und gleichzeitig wird das Vorantreiben des Plots nicht vernachlässigt. Dieser Comic, den man ohne Sorgen als einen der originellsten der letzten Jahre bezeichnen kann, scheint das vorgegebene Niveau mühelos halten zu können. (ras)

Manga-Mix

Tödliche Epidemie, ein Hacker-Krieg und der grosse Meister

Ein nackter, schlurfender Mann taucht mitten in Tokyo auf und bespeit Passanten mit Blut. Was sich zu Beginn eher wie ein Fall für den Psychiater anhört, ruft bald die Ermittler Mizoguchi du Inoue auf den Plan. Denn immer mehr Menschen erkranken an den Symptomen. Die Ermittler suchen fieberhaft nach der Ursache der Epidemie und gelangen dabei tief in Tokyos Kanalisation. Zudem verdichten sich die Anzeichen, dass es sich bei der Krankheit um einen bioterroristischen Anschlag handelt. Die dreibändige Serie "Manhole" (Carlsen, zirka 8 Euro/12 Franken je Band) von Tetsuya Tsutsui ist bis zum Durchlesen fast nicht mehr aus der Hand zu legen. Fernab von Manga-Klischees wird hier in unglaublich aufwändigen und realistischen Bildern ein ausgeklügelt Thriller präsentiert, bei dem man sich nicht wundern darf, falls Hollywood bald Film-Adaptionspläne bekannt gibt. (ras)

Der schüchterne Kenji entspricht dem seltsamen Wunsch seines Schwarms Natsuki und lässt sich bei einem Familienfest als ihr (falscher) Verlobter vorstellen. Neben den Irrungen, welche dies mitbringt, geschieht gleichzeitig das Unfassbare: Die virtuelle Welt OZ (eine Art Mischung zwischen Facebook, Second Life und einem Rollenspiel), in der viele Belange des öffentlichen Lebens geregelt werden, wird zum Ziel eines Hackerangriffs. Zeit für Kenji (ein heimliches Informatik-Genie) über sich hinauszuwachsen und dabei das Herz seiner "falschen" Verlobten Natsuki wirklich zu gewinnen. Der Manga "Summer Wars" (Carlsen, zirka 7 Euro/10 Franken je Band) reicht seiner Anime-Vorlage aus dem Jahr 2009 nicht ganz Wasser. Dies vor allem, da im Manga das irrsinnige Tempo und die Farbenpracht der Animation nicht umgesetzt werden konnten. Trotzdem wirkt die spannende Handlung, gepaart mit der ungewöhnlichen Liebesgeschichte und dem Feel-good-Faktor der liebevoll-ruppigen Familie Natsukis, auf dem Papier. Der Manga schafft es zudem dem Plot mehr Tiefe zu geben, da er in der Animation nicht gezeigte Nebenhandlungen belichtet. (ras)

Und dann wären noch ganz beiläufig: Zwei der bekanntesten Werke des Manga-Grossmeisters Osamu Tezuka. Mit der zehnbändigen Serie "Buddha" (Carlsen, zirka 23 Euro/33 Franken je Band) erscheint wahrscheinlich eines der ambitioniertesten Werke der japanischen Comic-Kunst. Zehn Jahre brauchte Tezuka, bis er das Leben Buddhas als Manga verwirklichte. In weitgehend chronologischen Episoden wird erzählt, wie der Gründer des Buddhismus zu seinen Einsichten kam. Auffallend angenehm ist dabei, dass Tezuka seiner fröhlichen Art treu bleibt und die Geschichte trotz des religiösen Hintergrunds mit Humor erzählt. Zudem tragen seine teilweise cartoonhaft gestalteten Figuren deutlich zur Zugänglichkeit des Werkes bei. Ohne zu übertreiben: Ein Klassiker, der eigentlich in jede Sammlung gehört. (ras)

In den epischen Ausassen etwas nachstehend, aber qualitativ sicher nicht schlechter zeigen sich die zwei Bände von "Kimba – Der weisse Löwe" (Carlsen, zirka 20 Euro/29 Franken je Band). Die Gesichte um den kleinen weissen Löwen, der seine Eltern verliert, ins Exil gelangt und schliesslich nach Afrika reist, um seinen Platz als rechtmässiger König der Tiere in Anspruch zu nehmen, gehört mittlerweile wohl zum kollektiven Gedächtnis. Falls nicht wegen der bekannteren Anime-Serie aus den 1960er-Jahren, dann sicher wegen des berühmten Disney-Films "Der König der Löwen" (der einige Überschneidungen mit dem japanischen Original hat, aber offiziell nicht als Vorlage gilt). Die Geschichte erzählt Tezuka mit viel Witz. Speziell ist, dass er dabei oft die "vierte Wand" fallen lässt und den Leser direkt anspricht. Ein rührendes Werk, das hier uneingeschränkt empfohlen wird. (ras)

Nach "Existenzen und andere Abgründe" kommt mit "Geliebter Affe und andere Offenbarungen" (Carlsen Comics, zirka 20 Euro/29 Franken) der zweite Kurzgeschichten-Sammelband des Gekiga-Pioniers Yoshihiro Tatsumi auf den deutschen Markt. Wer gute Laune und Zeitvertrieb sucht, ist hier definitiv fehl am Platz: Tatsumis Miniaturen handeln unter anderem von Stiefel-Fetischisten, Sodomisten und Nekrophilen. Sein hintergründiges, überaus kunstvoll und intelligent dargebrachtes Werk deshalb nur auf abartige Sexualität zu reduzieren, wäre verfehlt – doch "Geliebter Affe" ist diesbezüglich schon recht starker Toback und oftmals fast schon einen Tick zu nah am Unerträglichen. (scd)

1001 Comics, die Sie lesen sollten, bevor das Leben vorbei ist

Ultimatives Comic-Kompendium

"1001 Comics die Sie lesen sollten, bevor das Leben vorbei ist" (Editions Olms, zirka 30 Euro/42 Franken): Unter anderem nach Film und Musik liegt das ultimative Nachschlagewerk von Herausgeber Paul Gravett und 68 internationalen Autorennun endlich auch für den Bereich Comics vor. Auf 960 Seiten werden in chronologischer Reihenfolge die essenziellen Werke des Mediums mit zahlreichen Cover-Abbildungen und beispielhaften Panelfolgen in geraffter Form vorgestellt. Das Tolle daran: Die "deutsche Bearbeitung" bleibt in diesem Fall nicht – wie leider so oft bei Lexika – ein blosses Lippenbekenntnis der Verleger. Comic-Experte Andreas C. Knigge höchstselbst ist es, der dafür besorgt war, dass auch die europäische Entwicklung der siebten Kunst im Allgemeinen und diejenige im deutschsprachigen Bereich für diese einregionalisierte Fassung genügend Beachtung erfährt. Comic-Afficiandos und solche, die es werden wollen, dürfen entsprechend bedenkenlos zugreifen.

 

Selbstredend kann – notabene wie bei jedem Kanon – die Auswahl der Werke kritisiert oder zumindest punktuell in Frage gestellt werden. Je jüngeren Datums die vorgestellten Bände sind, umso weniger fest in Stein gemeisselt scheint, ob es sich nun wirklich um einen überdauernden Klassiker handelt oder nicht. Auch muss eingestanden werden, dass längst nicht alle Beiträge auf dem gleichen hohen Niveau verfasst worden sind. Manche erschöpfen sich in einer fast schon plumpen Inhaltsangabe, andere wiederum warten auf demselben begrenzten Raum mit einer brillanten Analyse und Kontextualisierung auf. Insgesamt aber – gerade auch wenn man den fairen Preis miteinbezieht und den Umstand, dass Marcel Feiges "Grosses Comic-Lexikon" längst nicht mehr greifbar ist – ein Nachschlagewerk, das man garantiert nicht mehr missen will. (scd)

 

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Don Martin 1: 1956–1967

Lachen, bis der Doktor kommt

Don Martin machte sich während seiner langen Karriere im Satiremagazin "Mad" als "Mad's maddest artist" einen Namen. Dies völlig zu Recht, wie sich auch 13 Jahre nach seinem Ableben im lange angekündigten "Don Martin: Die Mad-Werke der Zeichner Legende 1956–1967" (Panini, zirka 50 Euro/61 Franken) eindrücklich zeigt. Der über 330 Seiten umfassende Hardcover-Band ist ein wahres Bijou und wirklich jeden Rappen wert.

 

Was da Martin bereits in seiner Frühphase mit seinen charakteristischen Knollennasen-Langfuss-Männchen und lautmalerischen Exzessen an hintergründig Humoristischen und Subersiv-Satirischem hervorzaubert (ohne je zum Zyniker zu werden), lässt wiederholt staunen. Ein Irrsinns-Spass, herrlich! Nur das Vorwort von Hella von Sinnen müsste definitiv nicht sein, aber wems gefällt... (scd)

Aldebaran/Betelgeuze/Antares

Die Zukunft der Science Fiction

Ja, ich weiss, beim hier vorgestellten Werk handelt sich um keine Novität oder Neuauflage. Trotzdem: So viel Platz und Zeit muss sein, um an dieser Stelle auf den aussergewöhnlichen Utopie/Dystopie-Trilogie "Aldebaran"/"Betelgeuze"/"Antares" von Léo einzugeben: Die Entdeckung und Lektüre des seinerseits fünf Einzelalben umfassenden ersten Zyklus "Aldebaran" bescherte mir als routinierter Comic-Konsument unlängst eine jener so rar gewordenen Sternstunden. Ich will damit nicht sagen, dass es dem Medium generell an guten mutigen Science-Fiction-Stoffen mangeln würde ("Arzach" von Moebius, "Der ewige Krieg" von Marvano/Haldemann, "Die Endzeit der Delphine" von Prado, "Die Nacht" von Druillet u.v.a.). 

 

Tatsächlich ist mir jedoch bis dahin noch nie ein Science-Fiction-Comic – und zudem von solch epischer Grösse – untergekommen, der sich so konsequent und auf lebensbejahende Weise originell jeglicher Konvention entzogen hat. Der brasilianische, heute 68-jährige Künstler vollbringt als Architekt eines grafisch superb realisierten futuristisch-fantastischen Erzählkosmos wahre Wunder. Bezüglich Plot zeigt sich Léos grosses Verdienst darin, dass nicht kriegerische Handlungen und Weltraum-Action im Vordergrund stehen, sondern vielmehr der Dialog und die Interaktion zwischen den Akteuren, die biografische Weiterentwicklung der Figuren sowie für das Genre atypische ökologische Gedankengänge. Sämtliche 14 Bände sind bei Epsilon Grafix in einer schönen gebundenen und einheitlich daherkommenden Edition erhältlich. Gerade vor dem Hintergrund, dass der bislang letzte Zyklus "Antares" noch nicht vollendet ist, lohnt es sich, jetzt das Experiment Léo zu starten. (scd) 

Holy Terror

Superhelden gegen Dschihadisten

Nicht der Joker, nicht Lex Luthor, sondern ruchlose Islamisten wollen in Frank Millers neuestem Streich "Holy Terror" (Panini, zirka 30 Euro/40 Franken) Amerika den Todesstoss versetzen. Das lässt ernsthafte Zweifel an der geistigen Verfassung des Starautors der "Sin City"-Reihe und "300" aufkommen.

 

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Manara Werkausgabe 9

Auf der Suche nach dem Sinn – und schöne Frauen

Bei Milo Manara weiss man nie so wirklich woran man ist: Denn rein optisch gesehen handelt es sich bei seinen Werken oftmals um Bände, die man besser nicht in öffentlichen Verkehrsmitteln zur Hand nimmt, will man von den anderen Passagieren nicht scheel angeblickt werden. Zu aufreizend, wenn auch künstlerisch und ästhetisch überaus hochstehend in Szene gesetzt sind die darin vorkommenden Frauenfiguren, zu keck und oft auch explizit deren Posen. Wer sich davon nicht abschrecken lässt, findet im Oeuvre des italienischen Künstlers aber auch ungemein viel geistige Nahrung.

 

So exemplarisch einmal mehr beobachtbar etwa bei "Manara Werkausgabe 9" (Panini, 30 Euro/44 Franken), welche die beiden Geschichten "Ein Autor sucht sechs Personen"und "Tag des Zorns" enthält. 1980 und 1982 entstanden, wird der Leser in eine skurrile Welt zwischen Schein und Sein, Fiktion und Realität entführt – immer im Spannungsfeld zwischen Konvention, Klischee, ironischer Brechung und Metaebene inszeniert: Zum einen ist Manaras Alter Ego Giuseppe Bergmann Regisseur eines kruden Films, zum anderen agiert er gleichzeitig selber mittendrin neben der (selbstredend) hochgradig attraktiven Laien-Darstellerin, die von der obskuren Produzentin zum Mitspielen gezwungen worden ist, dann aber immer mehr in ihrer Rolle aufblüht. Um die Handlung in dieser schwarz-weiss umgesetzten New-Age-Opera voranzutreiben, setzte der damalige Mittdreissiger einen Koffer mit wertvollen Maya-Dokumenten ein, dem die Protagonisten bis tief in den schwarzen Kontinent hinein nachjagen. Kurzum: Wenn beim Verfassen einer solch schrägen Übungsanlage kein LSD oder sonstige halluzinogene Stoffe im Spiel waren, würde das sehr überraschen... Manara auf der Höhe seiner Kunst! (scd)

 

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XIII Mystery 4: Colonel Amos

Weiteres "Geheimdossier" als Intermezzo

Mit "Colonel Amos" (Carlsen, zirka 12 Euro/18 Franken) startet "XIII Mystery" bereits in die vierte Runde. In diesem von Comic-Legende Francois Boucq verfassten und D. Alcante gezeichneten One-Shot erfährt der Leser der inzwischen 20 Bände zählenden Agentenserie mehr über Samuel W. Amos und den illustren Werdegang des in Palästina geborenen CIA-Lieutnants. Zur Erinnerung: Amos war der erste, der den Protagonisten XIII als vermeintlichen Präsidentenmörder in die Hände bekam. Auch war er es, der durch eigene Nachforschungen die Verschwörung der XX entdeckte. Boucq liefert eine trickreiche Story, und auch Alcantes Artwork kann sich sehen lassen – die perfekte Lektüre, um die Wartezeit auf den 21. Band der Hautptserie bis Mitte 2013 zu überbrücken. (scd)

Batman: Pinguin – Schmerz und Vorurteil

Comeback im Frack

Er ist wieder zurück und legt dank der Story von Gregg Hurwitz und der zeichnerischen Umsetzung von Szymon Kudranski ein anständiges Comeback hin. Die Rede ist von der kleinen, dicken Gestalt mit langer Nase in Smoking und Zylinder: dem Pinguin. Im Batman-Sonderband 38 "Pinguin – Schmerz und Vorurteil" (Panini, zirka 13 Euro/17 Franken), spielt die menschliche Fledermaus nur eine Nebenrolle. Das Rampenlicht gehört Oswald Cobblepots, der seinen bisherigen grössten Auftritt in Tim Burtons Film "Batmans Rückkehr" (1992) feierte. In vielen Rückblenden erfährt der Leser den Ursprung der rücksichtslosen Haltung des Pinguins, dem jedes Mittel recht ist, um seine Machtstellung in Gothams Unterwelt zu halten. Die in mehrheitlich dunklen Tönen gehaltenen Bilder erzählen stimmungsvoll die Geschichte eines von der Umwelt gepeinigten Jungen, dessen aktueller Kampf um Anerkennung und Respekt trotz einer vielversprechenen Romanze einmal mehr tragisch endet. (sam) Leseprobe >

Superman/Batman

Superhelden für ABC-Schützen

Der renommierte Fischer Verlag, wo unter anderem Franz Kafkas Oeuvre erscheint, setzt auf Superhelden – das ist schon eine Erwähnung wert! In Zusammenarbeit mit DC Comics werden je 10 Batman-/Superman-Bände (je zirka 8 Euro/10 Franken) mit dem Vermerk "Nur für Jungs" und der (zumindest impliziten) Stossrichtung "pädagogisch wertvoll" auf den Markt geworfen. Es handelt sich dabei um illustrierte Erstlesebücher (Niveau: 2./3. Primarklasse), wobei der Lauftext regelmässig mit grafisch gestalteten Soundwords garniert wird. Die Büchlein enthalten neben einer kurzen harmlosen Geschichte – wobei die Zeichnungen recht stilisiert daherkommen – Extraseiten mit Rätseln und Worterklärungen. Ein Praxistest am neunjährigen Versuchsobjekt bestätigt: Die Fischer-Bände kommen gut und an und motivieren zum Lesen. Was können Eltern mehr verlangen? (scd) Infos und Leseprobe >

Tarzan 1

Happy Birthday, Herr der Affen!

Ende August vor 100 Jahren hat Edgar Rice Burroughs seinen Roman "Tarzan bei den Affen" zum ersten Mal in einem Pulp-Magazin veröffentlicht. Unglaublich, was der Dschungelheld des damaligen Freizeitautors in den kommenden Jahrzehnten für eine populärkulturelle Karriere durchmachte! Diese Odyssee ging quer durch die Medien - und machte konsequenterweise auch vor dem Comic nicht Halt. "Tarzan 1" (zirka 30 Euro/50 Franken) in bocola-typischer bibliophiler Ausstattung versammelt die Anfänge dieses eingeschlagenen Wegs in die neunte Kunst vom März 1931 bis Ende 1932.

 

Neben den 94 farbigen Sonntagsseiten enthält der grossformatige Band auch die schwarz-weiss realisierte Adaption von Burroughs erstem Roman aus dem Jahr 1928. Interessant: Es handelt sich hierbei um das Comic-Debüt des späteren "Prinz Eisenherz"-Erschaffers Hal Foster, der die "Tarzan"-Serie ab Ende September 1931 übernahm. Bereits hier zeigt sich das Talent und der unverkennbare präzise Stil des damals bereits fast 40-jährigen Werbezeichners, der eher zufällig zum Comic kam. Der "Haken" an der vorliegenden Ausgabe: Die Zeichnungen des ursprünglichen "Tarzan"-Zeichners Rex Maxon kommen an die Qualität des Foster'schen Artworks leider keineswegs heran. Darum dürften nur hartgesottene Fans respektive Comic-Archäologen wirklich Freude am Grossteil des ersten "Tarzan"-Bandes haben. Dennoch ist der Auftakt gelungen – dies infolge der exzellenten Reproduktions-Qualität und der äusserst lesenswerten Begleittexte. (scd)

 

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Kurz & knapp

Strapazin, aufklären, spazieren und duellieren

Noch bis am 3. März ist im Cartoonmuseum Basel "Comics deluxe!" zu sehen. Zur Ausstellung ist die Publikation "Comics deluxe! Das Comic Magazin Strapazin" (Cartoonmuseum Basel/Christoph Merian Verlag, zirka 24 Euro/29 Franken) erschienen. Der Band vereinigt repräsentative Beiträge aus der knapp 30-jährigen Geschichte des Schweizer Comic-Magazins. Einmal mehr verbüfft die enorme stilistische und inhaltliche Bandbreite der alternativen deutschsprachigen Comicszene. Abgerundet wird das Ganze von einem formidablen Essay über die Entwicklung des einheimischen Comicschaffens. (scd)

Openair-Stimmung, Jugend, Liebe & Sexualität: Die beiden Schweizer Urs Plüss (Text) und Diego Balli (Zeichnung) und  haben mit "Hotnights" (Schulverlag plus, zirka 16 Franken) einen Sachcomic geschaffen, der gekonnt auf den Einsatz des Mahnfingers verzichtet. Locker und flockig angerichtet, werden Themen wie die erste Liebe und Verhütung, aber auch Internet-Mobbing gestreift. Auftraggeberin dieser fürs 6. bis 13. Schuljahr gedachte Publikation ist die Stiftung Sexuelle Gesundheit Schweiz (scd)

"Der geheime Garten vom Nakano Broadway" (Carlsen, zirka 12 Euro/18 Franken): Bei dieser neuesten Veröffentlichung von Jiro Taniguchi handelt es sich um eine Zusammenarbeit mit dem Autor Masayuki Kusumi. Ähnlich wie bei "Der spazierende Mann" zeigt das dünne Bändchen auf, welchen Gewinn man daraus erzielen kann, wenn man sich beim Erkunden einer Stadt komplett treiben lässt ganz gemäss der Maxime "Der Weg ist das Ziel". Inspirierend und poetisch. (scd)

Wie wurden Superman und Batman zu dem, was sie jetzt sind? Die Zelebrierung dieser aitiologischen Geschichten sind untrennbar mit dem Superhelden-Genre verknüpft. Die Reihe "Erde eins" widmet sich ganz der Herkunft des Manns aus Stahl und des Mitternachtsdetektivs (je zirka 17 Euro/23 Franken) und bietet einen unkonventionellen Blickwinkel auf den Werdegang dieser beiden DC-Aushängeschilder. Empfehlenswert! (scd) Leseprobe Superman >, Leseprobe Batman >

Endlich, endlich, endlich: Bocolas Luxusausgabe von Hal Fosters "Prinz Eisenherz" liegt mit dem 18. Band (zirka 25 Euro/40 Franken) nach sechs Jahren komplett vor! Es handelt sich dabei um einen Ergänzungsband zur Serie, in der detailliert auf die Figuren, das Werk, den Autor sowie das Thema der Restaurierung der alten Sonntagsseiten und deren Farbgebung eingegangen wird – unverzichtbar. Gleichzeitig ist der fünfte und letzte Band (Jahrgang 1979/1980) der Foster/Murphy-Jahre erschienen. Die gute Nachricht: Bocola hat angekündigt, auch noch die folgenden Eisenherz-Abenteuer aus der Feder von John Cullen Murphy in der gleichen edlen Aufmachung publizieren zu wollen. Nostalgiker dürften sich auch über dem ebenfalls liebvoll restaurierten Wild-West-Klassiker "Lance" von Warren Tufts freuen, dessen vierter und vorletzter Band bei Bocola soeben publiziert wurde. (scd)

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