Steam Noir 1: Das Kuferherz

Eleganter und überdauernder Steampunk

Landsberg: Ein Komplex aus mehreren im All dahinschwebenden Schollen. Bei speziellen Sternkonstellationen wird das Eiland, auf dem nach wie vor Dampfkraft als Energieform dominiert, jeweils von toten Seelen heimgesucht, die den Weg ins Diesseits finden und Schaden bei Mensch und Tier anrichten. Um die Untoten unschädlich zu machen, wurde der Leonardsbund und mit ihm die so genannten Bizarromanten ins Leben gerufen. Als Vertreter dieser Berufsgattung – quasi als eine Art romantischer Ghostbuster – versucht Heinrich Lerchenwald dem Mysterium um ein getötetes Mädchen auf die Spur zu kommen.

 

«Steam Noir» (Cross Cult, zirka 17 Euro/22 Franken) von Felix Mertikat und Benjamin Schreuder: Das ist Innovation pur! Das deutsche Duo, das bereits für das poetische «Jakob» verantwortlich zeichnete, legt mit «Das Kupferherz» den Auftakt eienr verheissungsvollen neuen Serie vor. Unverbrauchtes Szenario, atmosphärische Farbgebung, spannender Plot – Kaufempfehlung ohne Einschränkung. Interesse Bemerkung am Rande: «Steam Noir» basiert auf dem Rollenspiel «Opus Anima» von Felix Mertikat. (scd)

 

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Ich bezahle für Sex

Zu nehmen oder nicht

Zugegeben: «Ich bezahle für Sex – Aufzeichnungen eines Freiers» (Walde + Graf, zirka 23 Euro/30 Franken) von Chester Brown («Fuck») ist garantiert nicht jedermanns Sache. Auf über 200 Seiten lässt der 53-Jährige den Leser während einer Erzählzeit von 14 Jahren am Leben seines Alter Egos teilhaben. Dieses beschliesst nach einer in die Brüche gegangenen Beziehung, seine sexuellen Bedürfnisse fortan bei Prostituierten zu stillen. Die Grafik kommt dabei extrem stilisiert und moderat explizit (Strichmännchen beim Kopulieren) daher. Brown stellt sich selber als dürren, hohlwangigen, bebrillten, intellektuellen Sonderling mit Halbglatze dar, der nie eine Miene verzieht. Bei «Ich bezahle für Sex» handelt es sich um eine Art Anständiger-Freier-Fibel –als Szenario dieses erklärtermassen autobiografischen Werks dient Browns Heimat Kanada. Ein Kanada, in dem sowohl der Strassenstrich als auch das Anbieten sexueller Dienstleistungen in angemieteten Räumlichkeiten verboten sind. (Prostitution ist in Kanada nach wie vor unter sehr eingeschränkten Bedingungen legal.)

 

Browns gezeichnetes Pendant stellt sich als schüchterner, aber sich konsequent und ohne Rücksicht auf Verluste von gesellschaftlich gewachsenen Werten emanzipierendes Individuum heraus – und genau im selben liberalen Tonfall sind die rund 100 Seiten starken Anmerkungen zum Thema gehalten. Hier führt der Autor pointiert aus, weshalb die kanadischen Gesetze nicht mehr zeitgemäss seien und kontert elegant, aber natürlich mit einem ganz bestimmten blinden Fleck, Einwände vor allem aus feministischer Warte gegen Prostitution. Wer sich vorbehaltlos auf diese Reflexion einzulassen bereit ist, dürfte aus «Ich bezahle für Sex» wohl einiges an Gewinn ziehen. Allen anderen sei geraten: Hände weg von diesem Buch, das pures Dynamit für die Hirnmasse ist. Für das Vorwort konnte übrigens Comix-Legende Robert Crumb gewonnen werden. (scd)

 

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Lust und Glaube

Das Kreuz mit den Trieben

Das Leben des Philosophieprofessors Alain Mangel scheint perfekt: Seine Vorlesungen in der Sorbonne sind bis auf den letzten Rang besetzt, und seine Studenten vergöttern ihn. Als seine Frau ihm auf den 60. Geburtstag wegen des selbst auferlegten Keuschheitsgelübnisses die Scheidungspapiere überreicht, stürzt das den hochdekorierten Theoretiker in eine tiefe Lebenskrise. Doch Mangel bleibt nicht lange allein: Die Studentin Elisabeth will von dem korpulenten Herrchen, das bisher stets in lila gewandet war, schwanger werden, um den neuen Messias zur Welt zu bringen. Bald findet sich auch schon eine Handvoll kruder Jünger ein, um zu bleiben. Eine Zeit der Partnerwechsel und allerlei Drogen beginnt. Als ob das Schlamassel nicht bereits perfekt wäre, betritt plötzlich auch noch ein kolumbianisches Drogenkartell die Bühne – mit mehreren Geheimdiensten im Schlepptau.

 

So deftig, wie das Coverbild von «Lust und Glaube» (Schreiber und Leser, zirka 30 Euro/39 Franken) von Alejandro Jodorowsky und Moebius vermuten lässt, ist der Plot gar nicht. Gewiss findet sich in der Gesamtausgabe der lange vergriffenen Einzelbände «Der Irre von Sacré Coeur», «Gefangen im Irrationalen» und «Der Irre von der Sorbonne» (1991–98) fasst, die eine oder andere explizite Sexszene. Doch pornografisch dürfte man die 1968er-Fantasterei wegen des sehr präsenten philosophischen Überbaus trotzdem nicht nennen können. Zumindest aus heutiger Sicht bleibt bei aller Verbeugung vor dieser Kollaboration des legendären Duos Jodorowsky/Moebius (u.a. «John Difool») zu konstatieren, dass das letzte Drittel enorm schwächelt und mit seinen (nur in der Re-Edition?) kleinformatigen Panels auch gestalterisch aus dem Rahmen fällt. So oder so gut und auch mutig von Schreiber und Leser, eine Neuauflage von «Lust und Glaube» zu bringen. Möge der Trilogie – gerade auch vor dem Hintergrund der traurigen Kunde von Moebius' Tod – eine möglichst grosse Leserschaft beschert sein. (scd)

 

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Brüsel

Vom Fieber des Stadtplaners

Um was geht es im «Die geheimnisvollen Städte»-Zyklusteil «Brüsel» (sic!; Schreiber & Leser, zirka 27 Euro/37 Franken) von Fracois Schuiten und Benoit Peters überhaupt? Eine Plotangabe ist zwar an sich kein Problem, doch wie schon bei «Die Sandkorntheorie» wäre das Resultat letztlich alles andere als befriedigend.

 

(Der Vollständigkeit halber: Der Brüseler Blumenhändler Constantin Abeels gerät in die Mühlen der Verwaltung und macht halb gewollt, halb nicht, immer vertieftere Bekanntschaft mit den feuchten Träumen eines so megalomanisch wie radikal veranlagten Stadtplaners, wobei es bei der Realisierung derselben schliesslich zur Katastrophe kommt. Charakteristisch für die Autoren ist der Einbruch des Surrealen und Absurden in die Normalität; die der ligne claire verhaftete Grafik imponiert insbesondere durch die beinahe schon hyperexakte Darstellung architektonischer Formen.)

 

Im Prinzip sagt der Titel bereits alles: «Brüsel», ein Homophon – Derridas différance lassen wir in diesem Zusammenhang jetzt mal aussen vor – zur Bezeichnung der belgischen Hauptstadt und damit im Sinne eines Doppelgängers respektive Gegenentwurfs untrennbar miteinander verbunden. Das mag kryptisch erscheinen, in der Kritikerstube geht es auch bereits auf zwölfe zu. Wer neugierig geworden ist – unbedingt anlesen! (scd)

 

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A God Somewhere

Mäandern an den Grenzen der Macht

Die beiden Brüder Hugh und Kevin, ihr gemeinsamer Freund Sam – und Hughs Ehefrau Alma: Fürwahr eine nicht ganz einfache Konstellation in Anbetracht dessen, dass Sam Alma liebt. Als ein gleissendes Etwas in Kevins Haus detoniert, kommt noch ein ganz anderer Faktor hinzu: Kevin überlebt die Explosion nicht nur, sondern verfügt fortan über übermenschliche Kräfte. Ein Segen, aber auch ein Fluch, wie sich bald schon ziemlich krass zeigt.

 

«Mit viel Macht kommt auch viel Verantwortung» (oder so ähnlich): Diese zwar abgelutschte, aber letztlich eigentlich gar nicht so dümmliche «Spider-Man»-Binsenweisheit passt perfekt zu «A God Somewhere» (Panini, zirka 25 Euro/34 Franken) von John Arcudi und Peter Snejbjerg. Indem Kevin seine neu erworbenen Kräfte nämlich nicht zum Wohl der Menschheit, sondern nur zu seinem persönlichen Vorteil einsetzt und der Grössenwahnsinn zunehmend Überhand nimmt, ist die Tragödie vorprogrammiert. Formal reiht sich «God» in die Reihe überzeugend gestalteter US-Comics wie «Y» oder «DMZ» ein. Inhaltlich ist der ganz grosse Coup aber leider nicht gelungen. Dies hauptsächlich, weil Kevins Bösartigkeit zu abrupt und zu wenig nachvollziehbar einsetzt und die zweite Hälfte des One-Shots beinahe nur noch aus – wenn auch stilvoll inszeniertem – Gemetzel besteht. Ein weiteres, für das Gros der Genre-Vertreter geradezu symptomatisches Manko: Unverständlicherweise wird der ganze Superhelden-Diskurs komplett ausgeblendet – «God» spielt in einer Welt, die weder einen Superman noch einen Lex Luthor zu kennen scheint. Wie auch immer: Vielleicht waren aufgrund der Lobeshymnen anderer Kritiker auch die zu gross, möglicherweise machte der Titel, der auf die Theodizee-Debatte anzuspielen scheint, Hoffnungen. Denn wer sich von der kurzen Plotzusammenfassung angesprochen fühlt und sich unterhalten lassen will, der kann nämlich eigentlich bedenkenlos anlesen. PS: Ähnlichkeiten mit dem aktuellen Superhelden-Drama «Chronicle» (und umgekehrt) sind übrigens rein zufälliger Natur... (scd)

 

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Splitter

Krebs, Katastrophen – und Superhelden

Einen grafisch wunderschönen Band fabriziert haben Enrique Bonet und «Spirou & Fantasio»-Zeichner José Luis Munuera mit «Das Zeichen des Mondes» (Carlsen, zirka 30 Euro/40 Franken). In Grautönen ausschliesslich mit der Farbe Rot in halbrealistischem Stil realisiert, wird die Geschichte eines Geschwisterpaars in einer ruralen Gegend erzählt. Dieses macht auf unheilvolle Weise Bekanntschaft mit einem mysteriösen Brunne in einem verwunschenen Wald. Das mag sich in der Kurzzusammenfassung banal und schon oft dagewesen anhören, durch das gelungene Artwork und die dichte Atmosphäre dieses Grusel-Dorf-Drama ist den Autoren jedoch trotz gewisser Längen ein beeindruckendes Werk gelungen. (scd)

Für Marisa Acocella scheint die Welt perfekt, bis sie im Alter von 43 Jahren drei Wochen vor ihrer Hochzeit die Diagnose Brustkrebs erhält. Sie entscheidet sich nicht nur, dem Krebs den Kampf anzusagen, sondern auch ihre Erfahrungen in Comic-Form zu dokumentieren. Herausgekommen ist dabei das autobiografische Werk «Cancer Woman» (Atrium, zirka 23 Euro/33 Franken). Schrill gezeichnet, erzählt Acocella ungeschönt von ihrer elfmonatigen Behandlung und wie sie den Brustkrebs schliesslich überwindet. Ein Buch, das sich auch für Nichtbetroffene (und Männer) zu lesen lohnt. (scd)

Achtung: Der Verlag, in dem «3/11 – Tagebuch nach Fukushima» (Carlsen, 13 Euro/19 Franken) von Yuko Ichimura erscheint, darf nicht zur Annahme verleiten, dass es sich dabei um einen Comic handelt. Vielmehr handelt es sich um mit manga-ähnlichen Zeichnungen versehene, autobiografische Miniaturen einer Werberegisseurin aus Tokyo, die um die Nuklearkatastrophe von Fukushima im März 2011 kreisen. Die Tagebucheinträge wurden von Tim Rittmann ins Deutsche übertragen und zuerst als Blog auf der Website des Magazins der «Süddeutsche Zeitung» publiziert. Stark! (scd)

Mike Mignolia = «Hellboy». Das dem nicht zwingend so sein muss, zeigt «Batman Collection: Mike Mignolia» (Panini, zirka 20 Euro/26 Franken), welches auf über 250 Seiten den gesammelten Batman-Ausstoss des Mannes mit dem unverkennbar Zeichenstil enthält. Vor allem die Geschichte «Sanctum» legt ein beredtes Zeugnis davon ab und passt grafisch perfekt zu Mignolias Dracula-Interpretation aus derselben Zeit. In den anderen Storys blitzt der «Hellboy»-Schöpfer vor allem inhaltlich auf – Mythen und Monster, das ist der Pfad, der auch bei «Blutige Schatten aus der Vergangenheit» und der Trilogie «Schatten über Gotham» bestens funktioniert. (scd)
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«Wer ermordete Retro Girl?»: Dieser Titel ist zugleich Programm des Auftraktbandes von «Powers» von Brian Michael Bendis und Michael Avon Oeming (Panini, zirka 20 Euro/26 Franken). Es handelt sich um einen relativ klassischen Whodunit, hier unter dem Vorzeichen des Superheldentums. Retro Girl lässt ihr Leben, ein Cop-Duo ermittelt – dabei kommen Geheimnisse zum Vorschein. Nicht der Brüller, aber dennoch oberer Durchschnitt, dies auch wegen der interessanten Panel-Gestaltung. (scd) 
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Auch der «Sandman präsentiert»-Band «The Dreaming: Durch die Tore aus Horn und Elfenbein» (Panini, zirka 25 Euro/34 Franken) ist leider eher mittelmässig geraten. In diesem (mittlerweile sechsten) Spin-off-Titel erzählen verschiedenste Autoren und Zeichner Geschichten aus dem Traumland der von Neil Gaiman geschaffenen Über-Serie «Sandman». Dies klappt mal besser, mal schlechter. Absolute Fans des Ursprungs-Zyklus kommen um einen Kauf wohl nicht umhin, an gehobener Fantasy interessierte Neulinge sollten zuerst lieber einen Blick ins Original von Gaiman werfen. (scd)

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Ein Offizier, der einen langen und wirren Monolog führt: Das optisch ansprechend aufzubereiten, scheint schwierig. Wäre da nicht der seltsame Bestrafungsapparat, den er gegenüber einem Fremden überengagiert zu verteidigen versucht... Sylvain Ricard und Maël haben bei «In der Strafkolonie» (Knesebeck, zirka 20 Euro/29 Franken), einer Comic-Adaption der gleichnamigen Erzählung von Franz Kafka von 1914, einen guten Job gemacht. Werktreue, expressiver Stil, erdige Farben – Auftrag bestens erfüllt!
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«Zehn kleine Negerlein»: Unter diesem Namen kannte man Agatha Christies hintergründigen Kriminalroman bis vor kurzem. In der Neuübersetzung heisst das meistverkaufte Werk von 1940 jetzt «Und dann gabs keines mehr». Unter diesem Titel ist nun auch die Comic-Übertragung von François Rivière und Frank Leclercq erschienen (Knesebeck, zirka 17 Euro/24 Franken). Zehn Personen, die alle in irgendeiner Form Schuld auf sich geladen haben, werden auf eine einsame Insel eingeladen – und kommen einer nach dem anderen zu Tode. Das Artwork kommt etwas gar konventionell daher, ansonsten ist die Umsetzung aber treffsicher geraten. Leseprobe »

Ich habe eine These: Alan Moore bemüht sich darum, jeden Band seiner «Liga der aussergewöhnlichen Gentlemen» noch abstruser zu gestalten – aktuell geschehen bei «1969» (Panini, zirka 13 Euro/17 Franken) –, damit ja niemand mehr auch nur im geringsten auf die Idee einer Verfilmung kommen könnte. Letztlich stellt sich halt schon die Frage, wem damit auf Dauer ein Gefallen getan ist. Logisch ist «1969» – die Liga verschlägt es in die Flower-Power-Ära – das Werk eines hochintelligenten Geists und bestimmt auf seine Weise literarisch wertvoll. Konsumerabler wird es jedoch dadurch nicht. Auf hohem Niveau wie gehabt ist Kevin O'Neills Artwork einzustufen. (scd) Leseprobe »

Beinahe schon penetrant präsentiert sich «Morning Glories 1: Für eine bessere Zukunft» (Panini, zirka 20 Euro/26 Franken) von Nick Spencer und Joe Eisma: Supertalentierte und superhübsche Pennäler kommen in ein Internat, in dem's voll krass zu und her geht, ein guter Schuss Mystery inklusive. Wie viele Variationen dieses ewig gleichen Stoffs hat die Welt schon erblickt? Trotz alledem ist «Morning Glories» ein gewisses Etwas nicht abzustreiten – die Serie dürfte sich bestimmt auch hier wie blöd verkaufen. Und es würde mich nicht wundern respektive sogar eher erstaunen, wenn eine Verfilmung nicht schon in der Pipeline wäre. (scd) Leseprobe »

Als Schlusspunkt ausnahmsweise etwas im strengen Sinne Medium-Fremdes: Die freudige Erinnerung an die Lektüre von Sam Itas herausragenden Popup-Comic-Adaptionen namhafter Literaturklassiker hat mich dazu verleitet, auch «M.C. Escher Pop-Up» (Knesebeck, zirka 30 Euro/41 Franken) von Courtney Watson McCarthy aus demselben Verlag anzutesten. Der grosse Verdienst Itas besteht darin, Bekanntes mittels extravaganter Optik total neu erlebbar zu machen. Dasselbe lässt sich vom Escher-Aufklappbuch leider nicht behaupten. Die Transformierung von nicht den Gesetzen der Logik folgenden 2D-Bildern in den dreidimensionalen Raum: An dieser Aufgabe kann man eigentlich nur scheitern... (scd)

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