Sandman

Sinnkrise im Reich der Träume

Comic – «Sandman» gehört zu den erfolgreichsten Comic-Serien der Gegenwart. Das Werk zeigt, dass auch anspruchsvolle Handlungen Rekorde brechen können.

Niemand kann ihm entkommen. Egal wie mächtig oder stark wir sind, jede Nacht treten wir in sein Reich ein und sind ihm ausgeliefert: Dream, Morpheus, dem Herrscher über das Traumreich oder ganz einfach dem Sandmann. Unlängst ist der zehnte Band auf Deutsch erschienen, womit die Serie «Sandman» (1989–96) nun auch in unseren Breitengraden endlich wieder komplett vorliegt. Die Geschichte des Engländers Neil Gaiman, welcher sich auch als Roman-Autor («American Gods») einen Ruf geschaffen hat, wurde insgesamt mit einem Dutzend Eisner-Awards ausgezeichnet.

 

Gottähnlich mit menschlichen Makeln

Die Handlung beginnt mit einem einzigartigen Ereignis. Britischen Mystiker gelingt es mit einem obskuren Ritual Anfang des 20. Jahrhunderts Dream gefangen zu nehmen. Über 70 Jahre verbringt er eingesperrt, bevor er sich schliesslich befreien kann. Zurück in den Träumen erkennt er, dass während der Abwesenheit sein Reich verfallen ist und sein Eigentum gestohlen wurde. Die Rückeroberung seines Herrschaftsanspruchs führt ihn an verschiedene Orte der Erde, in unbekannte Dimensionen und schliesslich sogar in die Hölle. Zunehmend beginnt er jedoch an seiner Jahrtausende alten Aufgabe zu zweifeln und stürzt in eine Sinnkrise. Der Autor selbst charakterisiert sein Werk folgendermassen: «Der Herrscher über das Traumreich lernt, dass man sich ändern muss oder sterben und trifft seine Entscheidung.»

Die Balance zwischen einer faszinierenden Fantasy-Welt und dem Präsentieren allzumenschlicher Probleme, die sogar eine gottähnliche Figur wie der Herrscher über das Traumreich hat, machen einen Grossteil der Anziehungskraft des Comics aus. Die Probleme teilt der Protagonist mit seinen sechs Geschwistern, einer Art Pantheon, die symbolisch für Tod, Schicksal, Verzweiflung, Begierde und weitere stehen. Neben den so genannten «Ewigen» lebt die Serie nicht zuletzt von ihren zahlreichen Nebencharakteren, wie beispielsweise dem Mann, der sich entschliesst nicht zu sterben und im Laufe der Jahrhunderte die Schattenseiten der Unsterblichkeit kennen lernt. Auffallend sind zudem die kulturellen Querverweise der Serie, wie etwa auf Shakespeare, der wiederholt als Figur auftaucht und die Inspiration für einige Schriften seines facettenreichen Werks, wie der Comic suggeriert, vom Sandmann höchstpersönlich erhalten hat.

 

Grafisch ist «Sandman» nur schwer umfassend zu beurteilen. Über die Entstehungsjahre haben mehrere Zeichner an der Illustrierung der Geschichte mitgearbeitet. So reicht die Bandbreite vom kruden Stil der Anfangszeit mit der eigenwillig bleichen Kolorierung bis hin zu den farbintensiven Panels von Ausnahmekünstler P. Craig Russell. Zu erwähnen sind zudem die extravaganten Cover-Bilder – eine Mixtur aus Zeichnung, Fotografie und Computerbearbeitung – von Dave McKean.

Träume ohne Ende

Ein besonderes Charakteristikum sind die vielen Spin-Offs die sich unabhängig der Haupthandlung mit einzelnen Aspekten der «Sandman»-Mythologie auseinandersetzen. Bekanntestes Beispiel ist «Ewige Nächte», an dem sich renommierte Zeichner aus der ganzen Welt wie der Italiener Milo Manara («Ein indianischer Sommer») beteiligten. Der Band ist einer der wenigen Comics, die es auf die Beststellerliste der New York Times geschafft hat.

 

Brandaktuell erschienen ist zudem «Im Reich der Träume». Der Band von Gastautor Bill Willingham («Fables») bietet Einblick in das Leben von Nebenfiguren des Traumreichs und hält witzige Erklärungen für Traumphänomene, wie wiederkehrende Träume oder die Schwierigkeit sich an Träume zu erinnern, bereit. Vom grafischen Aspekt her bietet der Comic herausragend gezeichnete, farbkräftige Bilder. Doch im Gegensatz zum Hauptzyklus stellt der Band eher Lesekost für eingefleischte Fans dar, die mehr vom «Sandman»-Universum brauchen.

 

Sasa Rasic, im November 2010

(zuerst erschienen in der «Neue Luzerner Zeitung» am 5. November 2010)

 

Übersicht zu allen Bänden der Serie »  

Leseprobe zu Band 1 »

Kommentar schreiben

Kommentare: 0