100 Kugeln – doch Helden gibts hier nicht

Vom juristischen Standpunkt her ist alles klar: Selbstjustiz darf es nicht geben. Doch können die Opfer schrecklicher Verbrechen die Urteile immer akzeptieren? Und was ist mit den Situationen, in denen das System versagt? Genau damit müssen sich die Charaktere in der Comic-Serie «100 Bullets» (Panini, zirka 22 bis 36 Franken bzw. 17 bis 27 Euro pro Band) auseinander setzen.

Rache ohne Folgen – garantiert

Im Mittelpunkt stehen unscheinbare Personen, denen schreckliches Unrecht angetan wurde. Diese werden von Agent Graves aufgesucht. Er überrascht die gebrochenen Menschen mit einem grossen Wissen über ihr Privatleben und einem unmoralischen Angebot: einen Koffer mit Informationen über die Täter, eindeutige Beweisen und einer Pistole inklusive 100 Patronen, die nicht zurückverfolgt werden können. Graves offeriert also die scheinbare Garantie einer Rache ohne rechtliche Folgen. Die Betroffenen finden sich nun in einem moralischen Dilemma wieder, und dem Leser erschliessen sich bei der Entscheidungsfindung Einblicke in die Abgründe der menschlichen Psyche.

Gespickt mit Innovationen

Die Serie wurde vom US-Autor Brian Azzarello und dem argentinischen Zeichner Eduardo Risso geschaffen. Letzterer machte sich mit Episoden für andere berühmte Titel wie «DMZ» und «Transmetropolitan» einen Namen. «100 Bullets» sorgte seit dem Erscheinen auf dem amerikanischen Markt 1999 für viel Furore und räumte verdientermassen mehrere Eisner- und Harvey-Awards ab, die begehrtesten Auszeichnungen in der Comic-Szene. Atmosphärisch hat sich die Handlung dem Film noir verschrieben. Helden sucht man hier vergebens. Die Hauptfiguren haben Fehler, und falls zur Abwechslung einmal rechtschaffene Charaktere auftauchen, dann nur als Opfer. Es ist eine einzige Reise durch kriminelle Milieus, von üblen Nachbarschaften bis hin zu den edlen Nachtclubs der ganz grossen Gangster. Kein Wunder, dass in der Serie auch Gewaltexzesse keine Seltenheit darstellen. Die in düsteren Farben gehaltenen Zeichnungen tragen mit ihrer Ton-in-Ton-Kolorierung perfekt zur Atmosphäre bei. Eigenwillige Perspektiven und eine ungewöhnliche Bildsprache tragen die vielen Wendungen in der Story mit.

Die geheimen Mächte

Die Fans im deutschsprachigem Raum fiebern gespannt dem Ende der aus just 100 Einzelheften bestehenden, 13-bändigen Serie entgegen, deren zwölfter Sammelband nun auf Deutsch erschienen ist. Denn mit Fortschreiten der Geschichte tritt der Hauptaspekt mit der Frage nach Rechtfertigung von Rache in den Hintergrund. Stattdessen wird aufgezeigt, dass hinter den nicht zurückverfolgbaren Patronen mächtige, sich rivalisierende Geheimorganisationen stehen und auf ihren finalen Konflikt zusteuern. Auch wenn man sich über das Gelungensein der Weiterentwicklung der Ursprungsstory streiten kann: Insgesamt können nur die wenigsten Serien unter den Comic-Erscheinungen der letzten zehn Jahre «100 Bullets» das Wasser reichen.

Sasa Rasic, im Mai 2011

(zuerst erschienen in der «Neue Luzerner Zeitung»)

 

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