Ein Vertrag mit Gott

Brillanter Beobachter und Anwalt des einfachen Volkes

Angesichts der unbestrittenen Relevanz erstaunlich viele Jahre war das Spätwerk von Will Eisner – allesamt Klassiker der Comic-Literatur – auf Deutsch vergriffen. Nun sind seine «Ein Vertrag mit Gott», «Lebenskraft» und «Dropsie Avenue» wieder erhältlich, zusammengefasst in dem hochwertig gestalteten, über 500 Seiten starken Hardcoverband «Ein Vertrag mit Gott – Mietshausgeschichten» (Carlsen, zirka 60 Franken). «Graphic Novels» nannte der 1917 in New York Geborene seine Erzeugnisse ab den 1980er-Jahren – ein Begriff, der inzwischen zu einer festen Grösse geworden ist, aber wegen seiner teilweise beliebigen Verwendung auch Kritik erfahren hat.

 

Chronist ohne Mahnfinger
Bei einer Re-Lektüre der drei Comics offenbart sich wiederum die Stärke des «Spirit»-Schöpfers als grosser und genauer Beobachter. In Eisners Geschichten steht nicht das grosse Weltgeschehen im Fokus des Interesses, sondern der von Nöten geplagte einfache Mann im urbanen Schmelztiegel, der sich, nach Glück strebend, durchs Leben schlägt, so gut es halt eben geht. Eisner zeigt diese kleinen (und grösseren) Dramen des Alltags ohne Mahnfinger, aber stets entlarvend, ungeschönt und zum Teil erstaunlich offenherzig – auch Sexszenen haben darin ihren festen Platz.

 

Neben der autobiografische Anleihen enthaltenden Familiensaga «Zum Herzen des Sturms» (1991) ist es vor allem der Band «Ein Vertrag mit Gott» (1980), der als Meilenstein des Mediums betrachtet wird. Dieser besteht aus vier Erzählungen, die alle im Mietshaus-Umfeld der Bronx der 1930er-Jahre spielen und auch Eisners eigene jüdische Herkunft reflektieren. Im Mittelpunkt des Geschehens stehen ein mit seinem Glauben hadernder Jude, ein abgehalfterter Strassensänger, ein sadistischer Hausmeister und eine junge Frau, die hofft, dass ihr wenigstens ein kleines Stück vom amerikanischen Traum gewährt wird. Im ebenfalls aus verschiedenen Episoden bestehenden Werk «Lebenskraft» (1988) wird eine Küchenschabe zum Inbegriff für die Anpassungsfähigkeit und den Überlebenswillen des unterprivilegierten Stadtmenschen. In «Dropsie Avenue» (1995) zeichnet Will Eisner schliesslich die wechselvolle, authentische Geschichte einer fiktiven Strasse in Manhattan auf – von 1870 bis hin zur Gegenwart.

 

Dynamische Seitenarchitektur
Wie generell in seinem Oeuvre erstaunt nach wie vor die Erzählweise, die beinahe gänzlich ohne herkömmliche, durch Linien begrenzte Panels auskommt. Etwas antiquiert, entsprechend gewöhnungsbedürftig und auf den ersten Blick für den heutigen Leser vielleicht sogar abschreckend mag die Monokolorierung mit Braun wirken. Doch diese formale Eigenart – in Anbetracht der halbrealistisch-karikaturistischen Darstellung der Charaktere durchaus funktional – schmälert den optischen Gehalt jedoch keineswegs, sondern hebt Eisners prägnanten Strich und den Plot durch die Reduktion noch hervor.

 

Dave Schläpfer, im März 2010

 

Hinweis
Der zweite Sammelband der Reihe – «New York und andere Grossstadtgeschichten» – ist auf den August anberaumt. Folgende Geschichten sind enthalten: «New York/Big City Blues», «The Building», «City People Notebook» und «Invisible People/Unsichtbare Menschen». Der dritte Band «Lebensbilder – Autobiografische Geschichten» wird unter anderem «Zum Herzen des Sturms» enthalten, wie Carlsen-Pressesprecherin Claudia Jerusalem-Groenewald auf Anfrage sagte.

 

Leseprobe der englischen Ausgabe von «Ein Vertrag mit Gott»

Detaillierte Besprechung von Eisners letztem Comic «Das Komplott» »

Kommentar schreiben

Kommentare: 0