Fräulein Else

Das Ende einer Jugend

Manuele Fior konzentriert sich bei seiner Adaption von Arthus Schnitzlers Novelle «Fräulein Else» auf die grafischen Möglichkeiten, die die Vorlage bietet. Sein Ansatz ist ebenso beispielhaft und souverän wie sein Umgang mit kunstgeschichtlichen Referenzen.

Bei Literaturadaptionen liegt stets die Frage nahe, in welcher Umsetzung der Stoff besser verarbeitet worden wäre. Meistens verzettelt man sich in solchen Debatten, ergreift entweder die Partei des Originals oder die des adaptierenden Mediums und beides führt zumeist zu nichts. Unterschiedliche Medien können jeweils Unterschiedliches leisten, so dass man sich darüber klar werden muss, inwiefern es gelungen ist, das Ausgangsmaterial in ein neues Medium zu transformieren.

 

Allein dass Manuele Fior sich ausgerechnet Arthur Schnitzlers «Fräulein Else» als Vorlage für seinen Comic (Avant, zirka 34 Franken) aussuchte, ist ziemlich wagemutig. Schnitzler liess seine Else um die sechzig Seiten einen inneren Monolog führen, der sich um ihre Lebensträume, ihren sozialen Status und dem Pflichtgefühl ihrer Familie gegenüber dreht.

Das Kreisen des inneren Monologs

Else verbringt auf Einladung einer reichen Tante einige Tage in einem Luxushotel. Dort geniesst die Neunzehnjährige ihre Jugend und das Leben, das ihr ihre verarmte Familie nicht mehr bieten kann. Ihr Müssiggang hat ein jähes Ende, als ein Brief ihrer Mutter eintrifft: Der Vater stehe kurz vor einer Verhaftung, weil ein Gläubiger dreissigtausend Gulden eingeklagt habe. Else soll sich an den betagten und betuchten Familienfreund Dorsday wenden, der auch in dem Hotel weilt und seit jeher eine Schwäche für Else hatte. Sie steht plötzlich in der Verantwortung für die längst verkrachte Existenz ihres Vaters. Allerdings knüpft Dorsday eine Bedingung daran, das Geld zu zahlen: Sie muss sich ihm nackt zeigen.

 

Manuele Fior hat die Dialog- und Monologbruchstücke sehr funktional aus Schnitzlers Novelle herausgesucht. Von dem zentralen Konflikt, an dem Else zunehmend verzweifelt und letztlich zerbricht, bleibt nicht mehr übrig als ein Gerüst. So zäh sie sich auch passagenweise liest: Die Novelle erschliesst dem Leser die Tragik der Figur Else. Sie kreist immer wieder krampfhaft in demselben Problemkreis herum, um zu erkennen, dass sie niemals so leben können wird, wie sie es sich ausmalt. Im Feld zwischen ihren Bedürfnissen und ihrer sozialen Lage sieht sie sich schliesslich zu einer Prostituierten herabgewürdigt. Der Comic illustriert diesen Konflikt nicht mehr als unbedingt nötig, wodurch die Leser ihn eher schlucken müssen als nachvollziehen können. Aber mehr benötigt Fior auch nicht, um die Novelle wundervoll zu ergänzen: Er verlegt sich auf die Aussenseite von Elses Niedergang.

Expressionistische Eleganz

Stilistisch lässt er Anklänge an zwei Vertreter der Wiener Moderne einfliessen: Egon Schiele und Gustav Klimt. Obwohl das luxuriöse Setting und die schwelgerische Veranlagung Elses nahegelegt hätten, die dekorativen Jugendstilelemente von Klimt zu verwenden, verzichtet Fior vollständig darauf. Stattdessen übernimmt er für Else die maskenhaft erstarrte Mimik, die Klimts Frauen gerade bei seinen Allegorien häufig tragen. Als sie einen Nervenzusammenbruch hat, zeigt sie sich Dorsday im Salon des Hotels nackt. Sie steht bei Fior da wie Klimts Nuda Veritas, nur zeigt sie der erlauchten Gesellschaft wirklich die nackte Wahrheit: Ich bin doch bloss unter euch, weil ich euch meinen hübschen Körper anbieten kann.

 

Else zerfällt in zwei Wesen: die die selbstverliebte Jugendliche, die sich an ihrer eigenen Schönheit und an schöner Wäsche erfreut, als ob es zwei Hautoberflächen wären, die sich aneinander schmiegen. Zugleich gerinnt ihr Gesicht zur angsterfüllten Maske mit blutunterlaufenen Augen. In solchen Momenten kommen einem die Frauenporträts von Schiele in den Sinn: Schönheit, die bereits krankt. Else könnte völlig selbstgenügsam in ihrem körperlichen Dasein aufgehen, wenn die Umstände es ihr erlauben würden, es auszuleben. Stattdessen versinkt sie in einem Delirium, in dem die Natur der Südtiroler Dolomiten um sie herum zu einem expressionistischen Albtraum wird.

Wie Manuele Fior bei «Fräulein Else» mit Farben arbeitet, ist schlichtweg atemberaubend. Wenn Else in der Hotellobby sitzt, ihr amourös flatterhafter Cousin Paul sie anschmachtet und sie Dorsday taxiert, erstarrt ihr Gesicht in gelbem Glanz während eine giftig-grüne Umgebung auf ihre Erscheinung eindringt. Allein das Leuchten der Farben und die Linienführung transportieren die oberflächliche Eleganz des Ortes und der Menschen, ohne dass zusätzliche dekorative Elemente dafür sorgen müssten. Die Gegenstände sind bloss sehr skizzenhaft gezeichnet. Im letzten Teil legen sich die Farbtöne aus Elses Delirium auf die Szenerie des Hotels.

 

Wie Manuele Fior mit kunsthistorischen Referenzen spielt und dennoch eine ganz eigene Note setzt, wie souverän er die literarische Vorlage für sich verwendet, dies alles ist ebenso erstaunlich wie die stilistische Wandlungsfähigkeit, durch die «Fräulein Else» sich von den vorangegangenen Bänden «Ikarus» und «Menschen am Sonntag» abhebt. Sein letzter Comic «5000 km in der Sekunde» ist jüngst auf dem Comicfestival im italienischen Lucca und mit dem Grossen Preis der Stadt Genf ausgezeichnet worden: Manuele Fior scheint sich immer wieder selbst zu übertreffen.

 

Waldemar Kesler, im November 2010

 

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