Im Schatten keiner Türme

Die Wunde klafft noch immer

Mit dem Näherrücken des zehnten Jahrestags der Anschläge vom 11. September steigt auch die mediale Aktivität. In der Regel konzentriert man sich dabei auf die Bedeutung für Amerika und die Welt sowie auf die Geschichte Direktbetroffener. Eine Kombination beider Aspekte wird im nun erstmals auf Deutsch erscheinenden Werk eines der weltweit bekanntesten Comic-Zeichners, Art Spiegelman, präsentiert.

 

Verzweiflung, Wut, Resignation

«Im Schatten keiner Türme» (Atrium-Verlag, zirka 48 Franken) erscheint heute im Buchhandel und liefert einen der persönlichsten Berichte über den Anschlag und die Zeit danach ab. Der Amerikaner Spiegelman, Schaffer von «Maus» (der erste Comic, der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde), zeigt in grossformatigen A3-Bildfolgen, wie er während die Twin Towers einstürzen versucht, seine Tochter aus der Nähe gelegenen Schule in Sicherheit zu bringen. In seinem assoziativen und chaotischen Stil gelingt es Spiegelman, die emotionale Achterbahnfahrt zwischen Verzweiflung, Hoffnung, Wut und Resignation packend darzustellen.

Grelles Panoptikum

Nach der Darstellung der gelungenen Rettung widmet sich der heute 63-Jährige der brisanten Folgezeit. Genauso wie seine Stilmittel vermengt Art Spiegelman Themen zu einem beeindruckenden Panoptikum und Rundumschlag gegen die amerikanische Öffentlichkeit. So werden im Stil alter Comics aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, mittels grellen Collagen und in Wasserfarbe-Kolorierung der Krieg gegen den Terror der damaligen Bush-Regierung und die betriebene «Politik der Angst» dargestellt. Dabei werden auch eher vernachlässigte Themen angeschnitten wie etwa die Runde machenden antisemitische Verschwörungstheorien, die Spiegelman als Sohn polnischer Juden noch immer treffen. Oder aber der unerklärliche Enthusiasmus einiger Sonderlinge angesichts der Anschläge, ganz im Sinne von «Endlich geschieht mal etwas». Dies alles unter dem Eindruck der von den Flugzeugen getroffenen, in sich zusammenstürzenden Türme vor dem geistigen Auge, welches sich dem Zeichner unwiderruflich eingebrannt hat.

 

So bleibt Spiegelman, der mit den amerikanischen Medien aufgrund ihres Opportunismus in Kriegsfragen gebrochen hat und sich «von der eigenen Regierung und Al-Quaida terrorisiert» fühlt nur der Rückzug. In Manhattan, seinem einst geliebten Quartier, das zu einer Hochsicherheitszone, in der er sich nicht mehr Zuhause fühlt, geworden ist, flüchtet er sich in die «heile Welt» alter Comics. Einige Auszüge dieser sind dem redaktionellen Teil von «Im Schatten keiner Türme» dann auch abgedruckt.

Zeichner seelischer Narben

Wiederum widmet sich Spiegelman den dunklen Seiten des Lebens und präsentiert dem Leser mit seinem persönlichen Beteiligung an 9/11 eine weitere seiner seelischen Narben. Dies zeigt sich als roter Faden, der durch sein Werk führt. In früheren Werken thematisierte er bereits den Suizid seiner Mutter während seiner Jugend und in «Maus» die Odyssee seiner Familie während des Holocaust bis ins Konzentrationslager Auschwitz. Spiegelmans innere Zerrissenheit zeigte sich auch im ebenfalls autobiografischen Band «Breakdowns – Portrait des Künstlers als %@*!», der unter anderem auch das stetige Mäandern zwischen Untergrund- und etablierter Kunst aufzeigte, ohne irgendwo wirklich eine Heimat gefunden zu haben.

 

«Im Schatten keiner Türme» ist jedoch nicht einfach eine weitere Traumaverarbeitung. Das Werk bietet ein facettenreiches und gelungenes Porträt der Anschläge vom 11. September. Der Umstand, dass Spiegelman nicht still vor sich hin trauert, sondern öffentlich aufschreit und verzweifelt anprangert, macht es zu einer wirklich berührenden Lektüre.

 

Sasa Rasic, im September 2011

(zuerst erschienen in der «Neue Luzerner Zeitung»)

 

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