Bilal und Christin

Sehnsucht nach einer besseren Welt

Ein neben einer militärischen Versuchsstation gelegener Weiler, der im wahrsten Sinne des Wortes in die Luft geht. Ein Fischerdorf, dessen Fassade als pittoreske Kulisse für das dort geplante Luxus-Ressort stehen gelassen werden soll und plötzlich mitsamt seinen Bewohnern nicht mehr da ist. Ein Arbeiterghetto, das nach dem Tod des Fabrikbesitzers als utopische Stadt unter einer Glaskuppel neu erbaut wird. Mittendrin: Ein so mysteriöser wie volksnaher und auf Umsturz bedachter Mann mit halblangem Haaren und düsterem Blick, der in all diese sonderbaren Geschehnisse – wenn auch nicht offensichtlich – massgeblich involviert ist.

 

«Die Kreuzfahrt der Vergessenen», «Das steinerne Schiff» und «Die Stadt, dies nie gab»: Nach der bereits erschienenen Anthologie «Fins de siècle» (siehe unten) sind jetzt auch diese drei Klassiker des fantastisch-realistischen Comics des franko-serbischen Duos Pierre Christin und Enki Bilal im Hardcover-Sammelband «Legenden der Gegenwart» (Ehapa, zirka 45 Euro/64 Franken) vereint und so auf Deutsch endlich wieder greifbar. Einerseits zeichnen die von 1975 bis 1977 erschienenen Alben ein düsteres Bild der Welt und des Menschen, das von Profitgier, Umweltzerstörung und Militarismus geprägt ist. Andererseits ist die Trilogie von der Hoffnung und vom Glauben durchdrungen, dass Umsturz und eine bessere Welt möglich sind. Die Themen, die in «Legenden der Gegenwart» angeschnitten werden, sind aktueller denn je und die Aufbereitung ist von revolutionärer Sprengkraft – entsprechend stark regt die Lektüre zum Nachdenken an.

Wie ein Blick in die deutsche Erstausgabe bei Carlsen Art aus dem Jahr 1987/88 zeigt, hat die grafische Gestaltung im Gegensatz dazu inzwischen arg Patina angesetzt, weswegen Ehapa für diese Ausgabe zu einer komplett neuen Kolorierung gegriffen hat. Die frühere eintönige und verwaschene expressive Farbgebung wurde gegen eine naturalistisch gehaltene ausgetauscht. Bei allen Vorbehalten gegen solche Vorgehensweisen bei Neuauflagen muss man im aktuellen Fall – anders als etwa bei der Überarbeitung von «John Difool» von Alejandro Jodorwsky und Moebius – konstatieren, dass die Kolorierung gelungen ist und die Trilogie so vielen Lesern attraktiver und zugänglicher erscheinen dürfte.

 

Not tut nun als nächstes eine Neuausgabe der schon lange nicht mehr regulär erhältlichen Trilogie «Alexander Nikopol» (1980 bis 1992) von Enki Bilal. Mit dieser ebenso meisterhaft inszenierten wie düsteren Vision einer totalitären Zukunftsgesellschaft zeigt der inzwischen 60-Jährige auf, dass er nicht nur als quasi lediglich ausführender Zeichner an der Seite des übermächtigen Pierre Christin («Valerian und Veronique») überzeugen kann, sondern auch als Autor brilliert. Bilals ausufernder Strich und Verquickung von Negativutopie und Mythologie, die er seit dem ersten «Nikopol»-Band «Die Geschäfte der Unsterblichen» immer wieder aufs Neue variiert (zuletzt in «Julia & Roem»), steht nach wie vor singulär in der Comic-Landschaft da.

 

Dave Schläpfer, im Februar 2012

Zeitenwenden

Bereits zu einem früheren Zeitpunkt neu aufgelegt worden ist die Bilal/Christin-Kompilation «Fins de Siècle» (Ehapa, zirka 45 Euro/64 Franken). Diese enthält die zuvor ebenfalls lange vergriffenen Bände «Der Schlaf der Vernunft» (1979) und «Treibjagd» (1983).

 

Im ersten Album versuchen in die Jahre gekommene Freiheitskämpfer in Spanien Faschisten Einhalt zu gebieten – und sehen sich je länger je mehr gezwungen, zu genau denselben unmenschlichen Mitteln wie ihre Widersacher zu greifen. Auch in "Treibjagd" geht es unzimperlich zu und her – als Ausgangspunkt dient hier ein Jagdtreffen unter kommunistischen Parteigenossen. Was als freundschaftliches Kräftemessen unter gestandenen Männern beginnt, entwickelt sich immer mehr zu einem perversen Spiel um Macht, bei dem längst nicht nur Wild ins Visier gerät. Abgerundet wird der Hardcover-Band von einem Interview mit den Autoren sowie einem rückblickenden Kommentar derselben auf die beiden Comics. (scd)

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