From Hell & Watchmen

Meisterbauten auf der Asche des Zerstörten

Der englische Autor Alan Moore kommt mit seinem Werk zurzeit auf dem deutschen Markt gleich zwei Mal zu Wiederveröffentlichungsehren. Das animiert zu einer Re-Lektüre der beiden Klassiker «From Hell» und «Watchmen».

Zum einen legt Cross Cult eine gebundene Ausgabe seines Jack-the-Ripper-Stoffs «From Hell» auf – ein im Zeitraum 1991-96 erschienenes 600-Seiten-Monstrum, welches seit der Auflösung von Thomas Tilsners Speed-Verlag vor einigen Jahren nicht mehr regulär erhältlich war (zirka 83 Franken). Zum anderen beschert Panini aus aktuellem Anlass – auf dem Cover allen Ernstes als «Comic zum Film» angepriesen – allen Anhängern des zunächst 1986/87 erschienen Superhelden-Epos «Watchmen» als kostengünstige Alternative zur gebundenen State-of-the-Art-«Ultimate Edition» (respektive «Absolute Edition») eine Softcover-Version (zirka 50 Franken).

 

Grenzen des Genres sprengen

Wenn man die beiden Werke wieder einmal durchblättert, wird rasch klar, weshalb beide nach wie vor als Nonplusultra des Mediums gehandelt werden: Einesteils werden beiderorts die jeweiligen Genregrenzen ohne Kompromisse gesprengt. Das zusammen mit dem hierzulande sonst kaum aufgefallenen Zeichner Eddie Campbell komplett in schwarz-weiss realisierte Buch «From Hell» hat kaum noch etwas mit der ursprünglichen viktorianischen Gruselmär zu tun. An deren Stelle tritt ein ungleich komplexeres Gebilde, welches als Epilog gar quasi als Metadiskurs eine ebenfalls in Comicform dargebrachte Rezeptionsgeschichte des Stoffs enthält. Dasselbe Phänomen ist auch bei «Watchmen» (und auch bei «Lost Girls» und anderen Beiträgen Moores) zu beobachten, wo im Superheldengenre geltende Konventionen aufgeweicht und dekonstruiert werden.

Möglichkeiten des Mediums ausloten

Andernteils erfährt auch das Medium an sich eine geradezu revolutionäre Zer- und Neusetzung, Aneignung und progressive Durchbrechung: So ist «Watchmen» kein reiner Comic, sondern besteht auch aus zahlreichen, seitenlangen Nur-Text-Passagen, denen jedoch derselbe Stellenwert wie den Teilen in Text und Bild zugesprochen wird. Und «From Hell» enthält gar einen geradezu wissenschaftlichen Kommentarteil, der sich ebenfalls als integraler Bestandteil der Gesamterzählung versteht. Von der Komplexität der Erzählstruktur und von der Vielschichtigkeit des Motivfundus und der Fülle an Interpretationsmöglichkeiten und Betrachtungsweisen her stehen beide Bände nach wie vor einigermassen singulär in der gesamten Comic-Landschaft da.

 

Ausschliesslich als Comic konzipiert

Möglicherweise liegt darin auch Moores Aversion gegenüber Zweitverwertungen für die Leinwand begründet: Seine Geschichten hat er für die Kunstform der neunten Kunst – und eben ausschliesslich hierfür – angelegt, sämtliche Erzählformen, die das Medium bietet, so weit wie möglich auslotend. Erstaunlich dabei ist, dass die Produkte sich trotzdem immer am Rand des gerade noch Massentauglichen bewegen – und somit enorme Anschlussfähigkeit besitzen, wie aktuell die Verwurstung von «Watchmen» in ein tumbes Beat’em-Up-Game, das kaum noch einen wirklichen Bezug zum Geist der Vorlage aufweisen dürfte, eindrücklich illustriert.

Die delikate Frage der Autorschaft

Weit weniger Probleme als Moore mit der Kulturindustrie (oder neutraler ausgedrückt: den Gesetzen des Marktes) scheint «Watchmen»-Zeichner Dave Gibbons zu haben. Dieser ist den klassischen Superheldengeschichten über die Jahre grosso modo treu geblieben und höchstens durch die Kollaboration mit Frank Miller aufgefallen, mit dem er 1990 die beachtliche Zukunftsvision «Liberty» geschaffen hat. Dass sein Sekundärband «Watching the Watchmen – Die Entstehung einer Graphic Novel» (zusammen mit Chip Kidd und Mike Vessl) sogar an mittelprächtige Rezensenten wie mich verschickt wird, dürfte durchaus etwas über das (wenigstens im deutschsprachigen Raum) damit verbundene verlegerische Risiko dieses selbstredend hochlöblichen Vorhabens aussagen (Panini, zirka 60 Franken). Mit dem opulenten Bildband in Übergrösse wird ein tiefer und durch persönliche Kommentare des Autors sympathischer Einblick in den Schaffensprozess von «Watchmen» gegeben. Dies lässt auch Rückschlüsse auf Moores Arbeitsweise zu und evoziert (wieder einmal) die Gretchenfrage, inwiefern auch der Zeichner – trotz deklarierter Aufgabenteilung – Autor sein kann und umgekehrt. Echte Nerds werden um einen Kauf wohl kaum umhinkommen, falls sie das textarme Werk nicht ohnehin bereits auf Englisch besitzen.

 

Übrigens: Wer zu faul zum Lesen ist, kann sich «Watchmen» jetzt auch als «The Complete Motion Comic» reinziehen. Es dürfte indes wohl eher unwahrscheinlich sein, dass es auch eine deutschsprachige Version dieser Doppel-DVD geben wird.

 

Dave Schläpfer, im März 2009

 

Infos und Leseprobe zu «From Hell» »

 

Mehr Infos zu den verschiedenen «Watchmen»-Ausgaben »

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