Phänomen Manga

Comicwelle aus dem fernen Osten

Pokémon, Dragonball und Co. haben Konjunktur – ein adäquater Zugang zu japanischen Comics wird im deutschsprachigen Bereich aber vielfach noch durch sich hartnäckig haltende Vorurteile verstellt.

Unleugbar haben Comics hier zu Lande in den letzten Jahren viel an Prestige gewonnen. Das vermag insgesamt jedoch nicht darüber hinwegzutäuschen, dass die «bunten Bildchen» für viele nach wie vor ein rotes Tuch darstellen. Die Liste der Vorurteile ist so lang wie abgedroschen: So werden Comics oftmals pauschalisierend als gewaltverherrlichend, frauenfeindlich, primitiv und volksverblödend abgetan - und stellten höchstens etwas für Kinder oder geistig im pubertären Alter Zurückgebliebene dar. Ihnen wird bestenfalls ein gewisser didaktischer Wert beigemessen, wenn es darum geht, den «breiten Massen» bürgerliches Bildungsgut zu vermitteln. Und dass Comics durchaus auch etwas mit Kunst zu tun haben können, wird kaum in Betracht gezogen.

 

Differenzen statt Defizite
Und zweifelsohne gibt es sie auch heute noch: Stümperisch gezeichnete, brutal-sexistische, in Vulgärsprache gehaltene Comics, welche den gängigen Stereotypen nur zu gut entsprechen. Tatsache ist aber, dass es «den» Comic natürlich nicht gibt. Vielmehr handelt es sich um ein weitverzweigtes Netz verschiedenster Arten von Text/Bild-Verknüpfungen, welche unter den Oberbegriff der Comics fallen. An Stelle des ewigen Diagnostizierens von Defiziten wäre deshalb wohl eine Betrachtung, welche neu zunächst nicht-wertend von Differenzen ausgeht und jedem Comics-Genre seine spezifischen Qualitäten zugesteht, wesentlich Gewinn bringender.

Boomende Mangas
Mit Stereotypen belastet ist gerade eine Comics-Sorte, die - allen kritischen Stimmen zum Trotz - auf amerikanischem und europäischem Boden bei bestimmten Käufersegmenten zunehmend und drastisch an Popularität gewinnt. Stein des Anstosses hier ist die Diagnose inhaltlicher Seichtheit, gepaart mit einer Durchtränkung von Sexualität und Gewalt. Vorurteile, die bei genauerem Hinsehen jedoch rasch entkräftet werden können.

 

Die Rede ist von den japanischen Comics, den so genannten Mangas, was sich ungefähr mit «zwangloses/ungezügeltes Bild» übersetzen lässt. Als Exponenten lassen sich hier etwa die im deutschen Raum inzwischen weite Verbreitung gefunden habenden Serien «Angel Sanctuary», «Dragonball» oder der Klassiker «Akira» aufführen. In diesem Bereich konnten sich v.a. die Verlage Carlsen, Egmont und Panini etablieren und verzeichnen Rekordgewinne. Derselbe Aufwärts-Trend zeigt sich im Bereich der japanischen Trickfilme (Animes), um mit «Chihiros Reise ins Zauberland» (2003), «Prinzessin Mononoke» (2001) oder der «Pokémon»-Serie nur einige abendfüllende zu nennen. Dieser Tage läuft zudem in den Schweizer Kinos der Weihnachts-Anime «Tokyo Godfathers» an. Doch gerade auch Anime-Serien boomen, was sich etwa an den Programmen von Privatfernsehsendern ablesen lässt. Dieses Phänomen ist jedoch nicht neu, müssen doch auch die als genuin europäisch erlebten Trickfilme «Die Biene Maja» (1976) und «Heidi» (1977) zu den Animes gezählt werden. Was von Skeptikern zunächst als Strohfeuer abgetan wurde, hat sich inzwischen als bestimmender Wirtschaftsfaktor im Verlagswesen erwiesen. Und nicht nur dort, was sich am gewaltigen Merchandising-Ausstoss oder an den mannigfaltigen Spiele-Umsetzungen für Konsolen und Computer unschwer erkennen lässt.

Japanische Wurzeln
In Japan erfreuen sich Mangas freilich schon lange quer durch die Bevölkerung allgemeiner Beliebtheit und Akzeptanz. Sie können auf eine lange Tradition zurückblicken, welche sich bis ins 6. Jahrhundert zurückverfolgen lässt, wo buddhistische Mönche erstmals begannen, Bildergeschichten auf Papierrollen zu zeichnen. Daraus entwickelten sich später Holzschnitte mit lustigem oder satirischem Inhalt. Inzwischen existieren Mangas für beinahe jede nur erdenkliche Zielgruppe, so gibt es bspw. Unterteilungen nach Alter, sexueller Ausrichtung und Hobbys. Die Manga-Gesamtauflage wird in Japan auf mehrere hundert Millionen Exemplare pro Monat (!) geschätzt, was 40 Prozent sämtlicher Druckerzeugnisse entspricht.

 

Klare Unterschiede
Auch wenn die Grenzen inzwischen nicht mehr so trennscharf sind, unterscheiden sich japanische Mangas von den klassischen europäischen Comics in ganz eklatanter Weise: Äusserlich fällt zunächst sicher die Länge der Geschichten auf, welche oftmals Telefonbuchdicke erreichen. So umfasst etwa die Negativutopie «Akira» (1982-1990) an die 2000 Seiten. Dies hat wenig mit Redundanz zu tun, sondern ergibt sich vielmehr aus der spezifischen Erzähltechnik, welche dem Film sehr nahe steht: So werden Handlungen oft in viele kleine Sequenzen aufgesplittet, woraus bspw. seitenlange Explosionen erwachsen können. Ohnehin kommen Mangas gemeinhin mit eher wenig Text und klar aufgebauten, vielfach in Schwarz/Weiss gehaltenen Bildern daher, was eine viel zügigere Lesart als bei europäischen Comics erlaubt. Mangas entstehen im Gegensatz zu westlichen Autorencomics in Teams in stetigem Dialog mit einem Redaktor, der in Kontakt mit den Lesern und deren Erwartungen steht. Die Ausrichtung ist somit vielfach klar kommerzieller Natur, womit der Kunst-Begriff von derjenigen der europäischen Tradition abweicht. Charakteristisch sind zudem die grossen Kulleraugen der Figuren, was von westlicher Seite oftmals als Kindchenschema-Exzess verspottet wird. Japanische Redaktoren legen jedoch grossen Wert auf den Ausdruck der Augen, gerade in ihnen sollen sich die Gefühle der Figuren auf subtile Weise zeigen. Als weiterer prominenter Unterschied fungiert natürlich die Leseweise von rechts nach links, was dem diesbezüglich ungewohnten europäischen Leser spätestens dann auffällt, wenn er einen Manga vom Schluss aus rückwärts zu lesen versucht - und logischerweise scheitert.

Experimente wagen
Wie bei den Comics gilt auch und besonders bei den Mangas, dass sich diese - allen Gegenstimmen zum Trotz - nicht auf ein gängiges Muster reduzieren lassen: Zu verschieden sind die Ansprüche und Zielgruppen, zu gross ist die Vielfalt der Arten und Themen. So reicht die inhaltliche Spannweite von Fussball- und Helden- über Porno-Mangas (so genannte Hentais) bis hin zu Sci-Fi und anspruchsvollen Art Novels (siehe Kasten). Dabei widerspiegelt sich in der künstlerischen Realisation einmal mehr, einmal weniger dominant das Bild einer uns fremden, oftmals auch befremdenden Kultur, wobei letztlich unklar bleibt, wie viel dieses mit der tatsächlichen japanischen Wirklichkeit gemein hat. Die Behauptung scheint jedenfalls durchaus plausibel, dass Mangas entscheidend mitbestimmen, in welchem Licht der Westen das ferne, nur zu oft verklärte Japan wahrnimmt.

 

Abschliessend kann sicher gesagt werden, dass der europäische Leser mit einer guten Portion Aufgeschlossenheit und Neugier (was eine gleichzeitig kritische Betrachtung keineswegs ausschliesst) im Manga-Kosmos in jeder Hinsicht bestimmt viel Neues und Interessantes entdecken kann!

 

Dave Schläpfer, im Dezember 2004

Manga-Autobiografie
1982 veröffentlichte der Rowohlt Verlag mit «Barfuss durch Hiroshima» (1975) von Keiji Nakazawa den ersten Manga in Deutschland. Nun wird das mehrfach ausgezeichnete Mammutwerk von Carlsen Comics in vier Bänden neu aufgelegt, womit es nach vielen Jahren endlich wieder einem grossen deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht wird. Nakazawa verarbeitet darin meisterlich - ähnlich wie das Art Spiegelman für den Holocaust in «Maus» getan hat - die durch den Zweiten Weltkrieg einschneidend geprägten Erlebnisse aus seiner Kindheit in Hiroshima. Der Zeichenstil stellt ein Konglomerat aus östlicher und westlicher Technik dar. Bei «Barfuss» handelt es sich um ein unbeschönigt erzähltes und in vielfacher Hinsicht gewiss auch subjektives Werk, welches selbst 30 Jahre nach seiner Entstehung durch seine Aktualität nachhaltig erschüttert. Das Epos kann als Musterbeispiel dafür gelten, dass sich das Medium Comic im Allgemeinen sowie Mangas im Besonderen durchaus auch ernsten und hoch stehenden Themen annehmen können. (scd)

 

Keiji Nakazawa: «Barfuss durch Hiroshima. Kinder des Krieges». Carlsen Comics.
(Die Bände 2-4 folgen im Verlauf des Jahres 2005.)

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