Alan Moore: Lost Girls

Die Kunst der Erotik

18 Jahre hat es gebraucht, um den Comicroman «Lost Girls» fertig zu stellen. Neben viel Kritikerlob und Kontroversen hat das monumentale Werk dem Starautor Alan Moore vor allem auch eines gebracht: Die Liebe seines Lebens.

Glücklich und exzentrisch: Alan Moore mit Melinda Gebbie am Tag ihrer Hochzeit. (Bild Jose Villarrubia)
Glücklich und exzentrisch: Alan Moore mit Melinda Gebbie am Tag ihrer Hochzeit. (Bild Jose Villarrubia)

Ein Eremit sei er, medienscheu, und vor allen Dingen solle man ihn keinesfalls auf Hollywood und die Filmadaptionen seiner Comics ansprechen, heisst es. Die Pressefotos, die es von Alan Moore gibt, zeigen einen drahtigen Mittfünfziger, dessen hohlwangiges Gesicht beinahe hinter dem wallendem, inzwischen ergrauten Haar und einem langen Bart zu verschwinden drohen – wäre da nicht das intelligent hervorblitzende Augenpaar. Eindrucksvoll ist ein Blick auf das Werk des britischen Comicautor, mit dem er so ungefähr jeden Preis gewonnen hat, den es in der Branche überhaupt gibt.

 

Grenzen abtasten und erweitern
Zu Recht: Mit Büchern wie «Watchmen», «V for Vendetta» oder «From Hell» hat der in Northampton lebende Moore aufgezeigt, dass sich mit Bildergeschichten durchaus hochstehende Storys für ein erwachsenes Publikum erzählen lassen. Auch wenn er den Begriff selber ablehnt, können seine Comics als mustergültige Vertreter des hochgejubelten Genres der «Graphic Novel» bezeichnet werden. Immer wieder hat Moore es geschafft, Genregrenzen zu sprengen und das Medium neu zu erfinden. Im Interview zeigt sich der bekennende Mystiker als einfühlsamer, auskunftsbereiter und höflicher Gesprächspartner. Auch vom Exzentrismus, ein Prädikat, mit dem Moore gern bedacht wird, war wenig zu merken.

 

Um was geht es in Ihrem neuesten Werk «Lost Girls»?

Alan Moore: Es handelt sich dabei um einen Versuch, ein erotisches Werk zu schaffen, das literarische Qualitäten besitzt, ein Buch also für eine gebildete Leserschaft. «Lost Girls» kann dabei meiner Meinung nach durchaus als pornografisch bezeichnet werden. Die Zeichnerin Melinda Gebbie und ich wollten damit eine intelligente Antwort auf die herkömmliche Schmuddel-Pornografie geben, mit dem Ziel, eine Umwertung dieses negativ besetzten Begriffs in Gang zu setzen. Gleichzeitig sollte sich «Lost Girls» davon abgrenzen. Aus diesem Grund war uns auch eine hochwertige buchmacherische Ausstattung so wichtig.

Das tönt nicht gerade nach einem einfachen Unterfangen…

Ja, das war es tatsächlich nicht. Immerhin dauerte es 18 Jahre bis zur Fertigstellung dieses Projekts, das meines Wissens einzigartig in seiner Art ist. Eigentlich hatte ich zuerst gar nicht beabsichtigt, ein 300-seitiges Werk zu produzieren. Dies wurde durch den Anspruch, den wir uns selber gestellt hatten, jedoch zwingend notwendig.

 

Erzählen Sie mehr davon.

Mit «Lost Girls» soll die ganze Bandbreite menschlichen sexuellen Lebens und Erlebens ausgelotet werden, ein Aspekt, der bislang im Comicgenre meistens ausgeblendet worden ist. Dies wird an den verschiedenen Erzählsträngen rund um drei Protagonistinnen exemplarisch aufgezeigt. Diese befinden sich in verschiedenen Lebensabschnitten: Lady Fairchild aus «Alice im Wunderland» ist Ende 60, Dorothy Gale aus «Der Zauberer von Oz» befindet sich in den Zwanziger- und Wendy Potter aus «Peter Pan» in den Dreissigerjahren. Die drei Frauen vertreiben sich die Zeit, indem sie sich gegenseitig erotische Erlebnisse aus ihrer Kindheit erzählen. Situiert ist der Plot in einem österreichischen Luxus-Hotel namens «Himmelreich» – kurz vor dem Beginn des 1. Weltkriegs, um zusätzlich noch eine kulturhistorische Dimension in die Geschichte, eine ganz bestimmte emotionale Lage Europas vor dem Beginn eines neuen Zeitalters, einer neuen Idee einzubringen.

 

Sie lassen also Figuren aus Kinderbuchklassikern über Sex sprechen und Sex haben? Ist das nicht problematisch?

Ja, bestimmt, wie man den kontroversen Diskussionen rund um den Comic entnehmen kann, auch was die Copyrightfrage anbelangt. Man darf dabei aber nicht vergessen, dass wir einen ungeheuren Respekt vor den verwendeten Charakteren haben. Durch die Zutat des Sexes in «Lost Girls» sollen die die ursprünglichen Geschichten nicht besudelt werden, im Gegenteil. Einmal davon ausgehend, dass Sex an sich nichts Schmutziges ist, haben wir uns gefragt: Was wäre etwa aus Alice im Wunderland geworden, wenn sie die Gelegenheit gehabt hätte – was ihr als fiktive Figur bislang verwehrt geblieben ist –, erwachsen zu werden? Was noch dazukommt: Viele Kinderbücher sind meines Erachtens genau genommen Bücher für Erwachsene; eine sexuelle Ebene schwingt in zahlreichen Werken unterschwellig mit. Zudem hat Wendy am Ende von «Peter Pan» eigene Kinder, also muss sie auch Sex gehabt haben, nur kommt das nie explizit zur Sprache.

«Lost Girls» ist demnach auch als Kommentar zum Erwachsenwerden zu lesen?

Genau, wie so viele Kinderbücher. Doch im Gegensatz dazu möchten wir aufzeigen, dass wir eben keine gefallenen Engel sind, nicht schmutzig, nicht sündig werden durch den Eintritt in die Erwachsenenwelt. Was das Sexuelle anbelangt, ist die Grenze zwischen Kindheit und Älterwerden auch gar nicht so strikt, wie gemeinhin angenommen, sondern eher als fliessend anzusehen. Durch diese ganzheitliche biografische Sichtweise gelangen auch die drei Protagonistinnen am Ende des Buches zur Läuterung; sie sind nun keine «verlorenen Mädchen» mehr, wie das im Titel angetönt wird.

 

Intellektuelle Überhöhung hin oder her: Der explizite Zeichenstil, der auch körperlich nicht an einem spurlos vorbeigeht, mag den einen oder anderen Leser brüskieren.

Das erste, was man sieht, ist natürlich das Artwork – und dieses ist zweifelsohne pornografischer Natur. Die Abbildung eines sexuellen Aktes ist die Abbildung eines sexuellen Aktes, ein nackter Frauenkörper ist ein nackter Frauenkörper. Daran lässt sich nichts ändern. Man muss sich aber auf das Werk als Ganzes einlassen, den Mut haben, das Experiment zu wagen, sich bewegen zu lassen, um ein abschliessendes Urteil darüber fällen zu können.

 

Eine Restirritation bleibt: Weshalb wird der Fokus derart stark auf gleichgeschlechtliche Liebe gelegt?

Die Frage ist berechtigt und es kann natürlich nicht geleugnet werden, dass dies auch mit der Grundanlage des Plots mit den drei Hauptakteurinnen zu tun hat. So oder so war es uns ein zentrales Anliegen, was das Sexuelle anbelangt, so wenig ausschliessend wie möglich zu sein. Im Gegensatz zur herkömmlichen Pornografie sollte natürlich auch nicht – ohne jetzt zu feministisch werden zu wollen – der lüsterne Blick des Mannes auf die Frau im Zentrum stehen. «Lost Girls» ist ein Versuch, Sex gleichberechtigt aus der Sichtweise des Mannes und der Frau, also polymorph aufzuzeigen. Dies wurde möglich durch unsere gemischtgeschlechtliche Autorschaft. Zudem wollten wir auch die männliche Homosexualität vollumfänglich miteinbeziehen, ein Tabu in herkömmlichen, sich an heterosexuelle Männer richtenden Pornos. Wichtig war uns generell, dass bei den dargestellten Sexszenen immer der Respekt und die Emotion gegenüber dem Partner allgegenwärtig ist – Sexualität soll als etwas Schönes wahrgenommen werden. Aus diesem Grund haben wir auch komplett auf Darstellungen, die Gewalt beinhalten, verzichtet.

Kontroversen hin oder her: Die Kritikermeinungen sind sehr wohlwollend und die Verkäufe schiessen in die Höhe. Wie viel zu diesem Erfolg hat Ihr Autorname beigetragen?

Natürlich habe ich mir im Verlaufe der Zeit als Autor einen bestimmten Namen gemacht. Die Leserschaft weiss, dass sie in meinen Büchern etwas erwartet, das sie herausfordert, bewegt und zum Nachdenken anregt. Ich bin mir sicher: Ein anderer Autor hätte viel mehr Mühe gehabt, mit demselben Buch dieselbe Akzeptanz, Aufmerksamkeit und denselben Respekt zu erhalten.

 

Wie verlief die Zusammenarbeit mit der Zeichnerin Melinda Gebbie an diesem delikaten Projekt?

Zunächst einmal: Es war sicherlich die intensivste Zusammenarbeit seit jeher. Melinda hatte einen ganz anderen Background als all die Zeichner, mit denen ich bislang zu tun hatte. Als Underground-Künstler hat sie den ganzen Arbeitsprozess (schreiben, skizzieren und zeichnen, kolorieren, lettern) immer eigenhändig gemacht, also nie mit einem Skript eines anderen Autors gearbeitet. Dadurch musste ich Kompromisse eingehen. Anders als sonst fertigte ich statt eines langen Skripts Rohskizzen an, die dann von Melinda ausgeführt und erweitert wurden, und versah diese erst dann mit dem Text.

 

Nun gibt es ja diesbezüglich auch noch eine Story hinter der Story: Sie beide sind ja seit bald einem Jahr verheiratet…

Wir haben uns in der Zeit, als wir an «Lost Girls» zusammenarbeiteten, drei bis vier Mal pro Woche getroffen und, ausgehend vom Comicprojekt, zahlreiche intime Gespräche geführt. Dadurch sind wir uns persönlich sehr nahe gekommen. Ich glaube, es gibt wenige Paare, die sich so ehrlich auf einem so hohen Level über Sexualität unterhalten können wie wir, was mich sehr glücklich macht. Dies kam unzweifelhaft auch dem Buch zu Gute. Ich glaube, man kann erkennen, dass es mit viel Liebe, Emotion und Leidenschaft produziert worden ist.

 

Sind weitere gemeinsame Projekte geplant?

Momentan beschäftigt sich Melinda vor allem mit dem Anfertigen von Gemälden, die ich ganz wunderbar finde. Ein weiterer gemeinsamer Comic ist im Moment nicht geplant. Sie wird aber ein in Buchform erscheinendes Theaterstück sowie ein Buch über Magie von mir illustrieren.

 

Interview von Dave Schläpfer, im Mai 2008

Nischenware für ein Massenpublikum
Die Lektüre von «Lost Girls» lässt körperlich garantiert niemanden unberührt. Und darin liegt wohl auch das ganze Problem und der Grund für die kontroverse Diskussion um das Werk begründet, die jetzt erwartbarerweise in ähnlichen Bahnen wie zuvor im englischen und frankophonen Bereich auf den deutschsprachigen Raum übergreifen dürfte.

 

Dabei kommt die Diskussion um die unleugbare Aussergewöhnlichkeit des Werks auf vielen Ebenen gedrungenermassen zu kurz: Mit «Lost Girls» gibt das Duo Moore/Gebbie auf hohem Niveau seinen Einstand und setzt im Comicbereich sowohl im formalen als auch im inhaltlichen Bereich neue Massstäbe. Vor allem in punkto Erzähltechnik wurde der 300-seitige Comic meisterlich komponiert. Es ist ein subtiles und gleichzeitig sinnliches Werk geworden, das bei der Thematisierung und Darstellung menschlicher Sexualität vor allem etwas in den Vordergrund rückt: Die zentrale Rolle des Respekts der Partner einander gegenüber, als Ausdruck von Menschlichkeit. Eine Basis, die alles überdauert – auch den Einbruch des Kriegs.

 

So entfaltet sich am Ende wohl auch nicht zufällige eine rote Blüte, als der Schauplatz der Geschehnisse, ein Hotel, von hereinstürmenden Soldaten sukzessive dem Erdboden gleichgemacht wird. Damit bleibt zum Schluss wenigstens – um mit dem Philosophen Adorno zu sprechen – der Hauch einer Hoffnung an ein richtiges Leben im falschen. Und dieses lebensbejahende Element ist es mitunter auch, das «Lost Girls» so wertvoll macht. (scd)

 

Alan Moore und Melinda Gebbie: «Lost Girls». Cross Cult. 300 Seiten. Zirka 129 Franken. Empfohlen ab 18 Jahren.

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