Stadt aus Glas / Black Hole

Psychedelischer Krankheitstrip und Identitätenspiel

Mit der Re-Issue des Klassikers "Stadt aus Glas" sowie der Komplettierung des "Black Hole"-Zyklus bewegt sich der deutsche Comic-Verlag Reprodukt auf gewohnt hohem Niveau.

Graphic Novels erleben momentan einen regelrechten Wiederveröffentlichungsboom. Daran ist bei entsprechender Qualität der Werke, die jeweils auf Grund kleiner Auflagen schnell vergriffen sind und nur noch mit Mühe antiquarisch erstanden werden können, durchaus nichts auszusetzen. So auch nicht beim 1994 erstmals auf Englisch erschienenen Comic "Stadt aus Glas", der schon seit mehreren Jahren nicht mehr regulär erhältlich ist. Die ursprünglich bei Rowohlt publizierte deutsche Erstausgabe ist auf dem Comic-Salon Erlangen 1998 mit dem renommierten Max-und-Moritz-Preis ausgezeichnet worden. Reprodukt hat die Neuausgabe mit einem Vorwort des "Maus"-Autors Art Spiegelman angereichert.

 

Krimi mit postmoderner Architektur
"Stadt aus Glas" basiert auf der gleich betitelten Romanvorlage des amerikanischen Schriftstellers Paul Auster. "City of Glass" (1985) bildet dabei zusammen mit den Folgewerken "Ghosts" (1986) und "The Locked Room" die so genannte "New York Trilogie". Diese stellt auf Grund des Spiels und der Durchbrechung mit den Genreregeln einen Höhe- und zugleich Wendepunkt des modernen Kriminalromans dar. So entwickelt sich denn der in New York angesiedelte Plot schnell zu einem komplexen und verschachtelten Spiel um Bezeichnungen und Identitäten. Protagonist ist der Krimiautor (!) Daniel Quinn: Eines Nachts wird er von einem Fremden zu Hilfe gerufen. Um einen Mord zu verhindern, schlüpft er in die Rolle eines Privatdetektivs und gerät so in den Sog einer unglaublichen (und Existenz verändernden) Story.

 

Es gibt nur sehr wenige Comics (und Verfilmungen) von Romanen, die es derart stimmig schaffen, die Grundatmosphäre der Vorlage einzufangen und zugleich hochartistisch mit den Möglichkeiten des eigenen Mediums zu spielen. Unbedingt empfehlenswert!

Weirde Comic-Pop-Art

Sicher ebenso empfehlenswert ist die Lektüre von Charles Burns "Black Hole"-Zyklus (1995-2005), der jetzt endlich mit dem sechsten Band komplett auf Deutsch vorliegt. Auch denjenigen, denen der amerikanische Comic-Artist bis dato kein Begriff ist, dürfte seine Kunst womöglich bereits bekannt sein, ohne dass sie es wissen. So zeichnet sich Burns etwa für das Plattencover von Iggy Pops "Brick By Brick" (1990) verantwortlich. Dieses Cover kann sowohl formal als auch thematisch als paradigmatisch für Burns Kunst angesehen werden: Zeichnerisch mit seiner Holzschnittartigkeit eng in der Pop Art verwurzelt und an Werke etwa von Roy Lichtenstein gemahnend, thematisch weird und die Realität ins Groteske überzeichnend.

 

Wenn man "Black Hole" betrachtet, liegt man mit dieser ersten Prognose tatsächlich gar nicht einmal so falsch. Man könnte Burns Geschichte durchaus mit der namensverwandten Teeniefilm-Mär "The Hole" (Nick Hamm, UK 2001) zu vergleichen versuchen. Vordergründig handelt es sich bei beiden um Kunstprodukte, die sich auf den ersten Blick zweifelsfrei dem Horror-Genre zuordnen lassen: In "Black Hole" mutieren Pubertierende im Seattle der 70er-Jahre zu grauenvoll entstellten Aussätzigen, in "The Hole" werden Adoleszente in einen Bunker gesperrt und erleben dort Schrecken ohne Ende und schliesslich ein Ende mit Schrecken - Aufklärung inklusive. Was sich in beiden Fällen wie eine erneute Verunglimpfung des Zehn-kleine-Negerlein-Themas anhört, entpuppt sich beiderorts als Täuschung: "The Hole" ist vielmehr ein stellenweise durchaus facettenreicher Psychothriller und eben gerade "Not Another Teen Movie", schafft es jedoch am Schluss nicht, sich dem Korsett der Horrorgenre-Zwänge zu entwinden - ein Grund, weshalb der Streifen wohl auch nicht im kollektiven Gedächtnis haften geblieben ist.

Der ganz normale Teenie-Wahnsinn
Dieser Rutsch ins Populär-Triviale ist nun in "Black Hole" mit seinem verschliessenden Gestus nicht ausmachbar. Dafür ist der Plot zu komplex, zu durchbrochen und zu chiffriert, der Darstellungsmodus zu unspektakulär und kontemplative Ruhe statt hektische Action evozierend. Die fürchterliche Krankheit der Jugendlichen scheint hier nicht für sich selbst, sondern viel mehr für etwas anderes zu stehen, das sich letztlich aber nicht klar festmachen lässt. In "Black Hole" geht es um den alltäglichen pubertären Wahnsinn: Um die Flucht vor der Ereignislosigkeit des Collegelebens, die Selbstfindung und -definition, Auflehnung gegen die Erwachsenenwelt, erste sexuelle Erfahrungen - und nicht zuletzt um die Auswirkungen halluzinogener Stoffe. Burns hält einer kaputten Gesellschaft den Spiegel vor, die Realität traumatisch entstellend und verzerrend.

 

Erwartungsgemäss wartet der letzte Band "Rick the Dick" mit keinem klärenden und wirklichen Ende im herkömmlichen Sinne auf. Die sich aufdrängenden Fragen, woher die Krankheit kommt, was es mit ihr auf sich hat, warum gewisse Teenies gegen sie immun sind und andere nicht, bleibt im Dunkeln. Die letzten Zeilen bringen den kulturkritischen und zugleich lakonischen und sarkastischen Grundton des Zyklus treffend auf den Punkt: "Mann, die Hälfte meiner Freunde ist daran verreckt. Ich hätte nie gedacht, dass ich aus der ganzen Scheisse je wieder rauskomme... Aber eines Tages begannen die Dinger in meinem Gesicht zu verheilen, und ein paar Monate später war ich ganz gesund und hab mit all den Scheissnormalos rumgehangen wie früher." Burns "Black Hole" - grafisch deliziös, inhaltlich verstörend und zum Nachdenken anregend.

 

Dave Schläpfer, im Juli 2006

 

"Paul Austers Stadt aus Glas", zirka 25 Franken, Infos und Leseprobe »

"Black Hole 1-6" je zirka 22 Franken, Infos und Leseprobe »

Der Reprodukt-Verlag

Der Verlag Reprodukt ist 1991 gegründet worden. Zunächst erschien pro Jahr ein Comicalbum aus der amerikanischen Reihe "Love & Rockets" der Brüder Gilbert und Jaime Hernandez in Koproduktion mit dem Schweizer Verlag Edition Moderne. 1993 kam mit Daniel Clowes und seinem Album "Wie ein samtener Handschuh in eisernen Fesseln" ein weiterer Zeichner der US-Independent-Szene dazu. Seit 1998 sind zunehmend Berliner und Hamburger Zeichner vertreten, von denen einige mit ihren Strips in der lokalen und überregionalen Presse bekannt geworden sind: ATAK, Arne Bellstorf, Anke Feuchtenberger, Fil, CX Huth, Reinhard Kleist, Mawil, Andreas Michalke, OL, Martin tom Dieck oder Minou Zaribaf.

 

Bei allen Unterschieden ist den Zeichnern gemeinsam, dass sie aus der Independent-Szene kommen, was sowohl thematisch als auch formal deutlich wird. Häufig werden autobiografische Bezüge erkennbar: Auch wo Fiktion entsteht, zum Beispiel bei Daniel Clowes oder Marc-Antoine Mathieu, bleibt die eigene Perspektive der wichtigste Ausgangspunkt.

 

Reprodukt besteht derzeit aus einem Netzwerk von vielen freien Mitarbeitern. Für jeden Einzeltitel gibt es einen freien Herausgeber, der die entsprechende Buchproduktion weitestgehend betreut, also die verschiedenen Arbeitsschritte delegiert und beaufsichtigt: Angefangen mit dem Ankauf der Lizenzrechte über die Übersetzung, das Lettering und die Herstellung bis zur Prüfung der Blaupausen. Die Comics entstehen in enger Zusammenarbeit mit den Zeichnern, die für die deutschsprachigen Ausgaben ihrer Arbeiten neue Cover anfertigen. Auf sorgfältige Übersetzung und gute Ausstattung wird grossen Wert gelegt. (scd)

 

Eine kleine Auswahl von empfehlenswerten Comics aus dem Hause Reprodukt:

 

Anke Feuchtenberger/Katrin de Vries: Die Hure H
ATAK: Alice, küss den Mond, bevor er schläft
Daniel Clowes: Wie ein seidener Handschuh in eisernen Fesseln
Robert Crumb: Fritz the Cat
Fil: Didi & Stulle 1: Einen drin
OL: Von Debilen für Debilen

 

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